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Zehn Fragen an Dr. med. Oliver Dierssen

Woran liegt es denn, dass Kinder und Eltern manchmal so verschieden sind?
Weil alle Menschen verschieden sind und Eltern und Kinder da keine Ausnahme darstellen. Dies merkt man an Erwachsenen sehr deutlich, die sich ja meist erheblich von ihren Eltern unterscheiden. Diese Unterschiede sind nicht nur notwendig, sondern auch wertvoll, sie sind Ausdruck unserer höchst individuellen Persönlichkeit, Veranlagung und Entwicklung. Diese Individualität bei Kindern ernst zu nehmen und wertzuschätzen ist ein Erfolgsgeheimnis guter Eltern-Kind-Beziehungen.

Sie schreiben, der häufigste Grund, aus dem sich Eltern Hilfe in einer Familienpraxis suchen, sind Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern. Woher kommen diese Kämpfe?
Die meisten Eltern üben nicht etwa „Macht“ über ihre Kinder aus, weil sie die Machtausübung selbst so genießen. (Die Kehrseite elterlicher Machtausübung ist ja die Ohnmacht, und gerade Eltern mit einem hohem Bedürfnis, dass ihr Kind „hört“, berichten häufig über das Gefühl, ohnmächtig zu sein und sich nicht ernstgenommen zu fühlen.) Sie handeln häufig aus der Sorge heraus, die Kinder könnten sich nicht gut entwickeln, wenn sie „machen, was sie wollen“. Kollidiert diese elterliche Sorge mit dem kindlichen Bedürfnis zur freien Entfaltung, kann es zu Machtkämpfen kommen.

Was sind Ohnmachtszeichen bei Kindern und warum interpretieren viele Eltern diese Ohnmachtszeichen als Streitlust und Respektlosigkeit?
Jeder von uns sendet Ohnmachtszeichen. Sie treten auf, wenn wir das Gefühl haben, uns entgleitet jede Kontrolle. Erwachsene neigen in solchen Situationen zu impulsivem Verhalten oder gehen aus dem Kontakt. Kindliche Ohnmachtszeichen werden von Eltern manchmal als Respektlosigkeit oder „Nicht-Hören“ fehlinterpretiert: ins Kinderzimmer laufen, sich verstecken, unterbrechen, weinen oder schreien. Diese Verhaltensweisen weisen aber oft auf das kindliche Gefühl von Machtlosigkeit hin. Darum ist es kontraproduktiv, auf solches Verhalten mit noch mehr Druck und Kontrolle zu reagieren, sondern den Konflikt erst einmal abzuküh len.

Können Sie uns etwas über Stolz, Ehrgefühl, Würde und sog. „Scham-Angst“ von Kindern sagen?
Das Gefühl von Würde und Selbstrespekt ist bei fast allen Menschen empfindlich, bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Wer beschämt wird, schweigt und zieht sich zurück, oft unter einer erheblichen seelischen Belastung. Darum sind Beschämung und Bloßstellung als Erziehungsmittel nicht richtig. Kinder, die dies häufig erleben, entwickeln eine Angst vor dieser Beschämung und werden zunehmend in ihrem Verhalten gehemmt und verunsichert. Dabei wollen wir doch, dass sie sich selbstbewusst und frei entwickeln!

Sie schreiben, Eltern sollten sich erlauben, ihr Kind mit „fremden Augen“ zu sehen. Was genau meinen Sie damit?
Mit fremden Menschen gehen wir oft höflicher um. Wir sehen leichter über ihre Fehler oder Marotten hinweg und bemühen uns um einen verbindlichen Ton, der Konflikte umschifft. Es kann hilfreich sein, sich gelegentlich zu fragen: „Wie würde ich mich jetzt verhalten, wenn es das Kind meiner Nachbarin wäre?“ Automatisch greifen wir dann auf Gesprächsstrategien zurück, die Konflikte unwahrscheinlicher machen und am Ende allen helfen, ihr Gesicht zu wahren.

Was ist ein Eltern-Burnout und was lässt sich dagegen tun?

Dass es Burnout-Erkrankungen nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Elternschaft gibt, ist inzwischen wissenschaftlich gut erforscht und belegt. Gerade Eltern, die nach dem Motto leben: „Es ist nicht wichtig, wie es mir geht, sondern wie es meinem Kind geht“, sind hier eine Risikogruppe. Um einen Burnout abzuwenden, der ja mit schwerwiegenden klinischen Symptomen einhergeht, sind Verhaltenstipps allein nicht ausreichend. Wichtig ist, die eigene Haltung zu hinterfragen: Darf ich mich auch mal selbst an erste Stelle setzen? Kann ich mit den Schuldgefühlen umgehen, die mich zu überwältigen drohen, wenn ich mir selbst etwas Gutes tue, ohne mich zuerst um die anderen zu sorgen? Kann ich Mitgefühl mir selbst gegenüber entwickeln?

…ein paar praktische Fragen:

Wie bekomme ich mein Kleinkind dazu, mit mir zu kommen, wenn ich es von seiner Spiel-Verabredung abholen möchte?

Wenn die Frage meint, wie ich mein Kleinkind dazu bringe, gern abgeholt zu wer- den und das schöne Spiel freudig abzubrechen, ist die Antwort vermutlich: „Ein Ding der Unmöglichkeit.“ In solchen Situationen entsteht ein Bedürfniskonflikt zwischen Eltern und Kindern. Dieser ist nicht immer zu lösen, sondern es kracht eben auch mal. Wichtig ist dabei sich vor Augen zu führen: Auch wenn wir Bedürfnisse nicht unter einen Hut bekommen, sind sie meist doch legitim – das Be dürfnis des Kindes weiterzuspielen ebenso wie das Bedürfnis der Eltern, nach Hause zu fahren. Sich dies vor Augen zu führen hilft dabei, nicht die Fassung zu verlieren und dem Kind das Gefühl zu geben: „Ich kann gut verstehen, was du möchtest, auch wenn ich es gerade nicht erlauben kann.“

Sollte man seine Kinder auch gegen die eigene Überzeugung einfach mal den Nachmittag „durchzocken“ lassen, um des lieben Familienfriedens willen?

Es liegt selten Segen darauf, gegen die eigene Überzeugungen zu handeln. Eltern sollten ihren Instinkten trauen. Zur Beruhigung muss ich aber sagen: Man darf auch mal inkonsequent sein, das gehört zum Leben dazu. Jeder von uns hat als Kind auch mal zu lange oder heimlich ferngesehen oder Gameboy gespielt. Davon geht die Welt nicht unter.

Wie kann ich meinem Teenie-Kind Hilfe bei seinen sozialen Krisen anbieten, wenn ich den Eindruck habe, dass meine Ratschläge unerwünscht sind?
Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Jugendliche oft sehr kompetent darin sind, Probleme selbst zu lösen. Diese Kompetenz sollten wir ihnen nicht absprechen, sondern nutzen. Ich kann fragen: „Kannst du das Problem allein lösen, oder soll ich helfen?“ Wichtig ist auch, eine rote Linie zu ziehen: „Mit wem löst du dein Problem, wenn du es allein nicht schaffst? Kann ich mich darauf verlassen, dass du dann Bescheid sagst?“ Die meisten Jugendlichen reagieren sehr positiv darauf, dass man ihnen vertraut, und nutzen ein so gestaffeltes Hilfsangebot am Ende tat- sächlich.

Und last but not least: Was kann man tun, um all die schlauen Dinge, die in Ihrem Buch stehen, im Erziehungs-Alltag nicht wieder zu vergessen?
Indem man die Übungen und Anregungen einfach ausprobiert und die Dinge, die funktionieren, immer wieder und häufiger in den Alltag einfließen lässt. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn mein Buch einen Veränderungs- und Entwicklungsprozess in Eltern anstößt, der über die im Buch beschriebenen Probleme und Lösungen hinausgeht und Eltern ermutigt, die eigene Entwicklung und den eigenen Lebensweg wieder stärker in den Fokus zu nehmen.
Dr. Oliver Dierssen
© Agnieska Dörrie
Dr. med. Oliver Dierssen, 1980 in Hannover geboren, ist als niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Region Hannover tätig. Er engagiert sich in der Patientenarbeit und in sozialen Medien für den Kinderschutz und gewaltfreie, bindungsorientierte Erziehung, ist regelmäßig zu Gast in profilierten Podcasts (»Das gewünschteste Wunschkind«, »Kakadu-Podcast«(Deutschlandfunk Kultur)), meldet sich in seiner ZEIT Leo-Kolumne zu Wort und informiert auf seinem viel gelesenen Twitter-Account zu aktuellen Themen. Für seinen ersten Roman Fledermausland erhielt er 2010 den Deutschen Phantastik Preis. Der vielseitig interessierte Autor von Fachliteratur und Romanen lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in der Nähe von Hannover. Dies ist sein erstes populärwissenschaftliches Sachbuch.

Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht)

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