Ein kalter Wind rüttelte an den Fensterläden des kleinen denkmalgeschützten Hauses unten in Övelgönne. Oke Andersen saß in seinem Lieblingssessel in der Dunkelheit und sah hinaus auf die Elbe. Ein großes Containerschiff schob sich gerade von rechts in sein Blickfeld. Die Colombo Express von der Reederei Hapag Lloyd auf ihrem Weg in den Hamburger Hafen. Größter und gierigster Leistungsträger der Globalisierung. Beladen mit knapp zehntausend Containern, angetrieben von rund neunzigtausend PS. Dreimal so viel wie die Titanic. Fuhr im Laufe ihres Lebens ca. fünfzehn Mal zum Mond und zurück. Verbrauchte ca. dreihundert Tonnen Schweröl – pro Tag. Einmal volltanken derzeit 5,4 Millionen Euro, wusste Andersen. Natürlich.
Schiffe und Philosophie waren seine Leidenschaft. Als Lotse a.D. kannte Oke Andersen die Elbe und all ihre Untiefen wie kein Zweiter. Jetzt, im Ruhestand, hatte der Junggeselle endlich Zeit für seine zweite Leidenschaft, das Lesen. Vor allem die Philosophie hatte es ihm angetan. Den Unsinn des Lebens mit Sinn füllen. Weil Oke Andersen gern Kant, Plato, Schopenhauer und andere Philosophen zitierte, hatten ihm seine Kollegen vor Jahren den Spitznamen La Lotse gegeben. Passte. Er mochte Laotse, den alten, chinesischen Weisen, der stets nach dem rechten Weg und einem tugendhaften Leben suchte. So wie Andersen ein Berufsleben lang Fahrwasser für die Ozeanriesen gesucht hatte. Erst als Kapitän bei der Reederei Horn, später, etwas sesshafter geworden, von Finkenwerder aus die letzten Seemeilen die Elbe hoch – als Hafenlotse. Als derjenige, der die Schlepper von der Brücke aus dirigierte, der dafür sorgte, dass auf den letzten Metern nichts schieflief und die dicken Pötte sicher an der Pier festmachten.
Andersen sah mit seinem Fernglas der Colombo Express hinterher. Er wusste: Oben auf der Brücke stand ein revierkundiger Nautiker, Kollege Schömel wahrscheinlich, einer wie er, Mitglied in der Lotsenbrüderschaft. Er schwenkte das Fernglas weiter Richtung Ufer. Sein Blick streifte den »Bojenmann«, eine hölzerne Menschenfigur aus Eiche. Ein frei schwimmendes Kunstwerk, erschaffen vom Bildhauer Stephan Balkenhol, montiert auf einer Boje mit einem steinernen Anker. Zwar außerhalb des Fahrwassers, trotzdem ein unnötiges Hindernis aus seemännischer Sicht. Außerdem fröstelte Andersen immer leicht, wenn er die Gestalt sah, die sieben Monate im Jahr reglos im Wasser auf die andere Seite der Elbe starrte, bevor sie Ende Oktober wieder in ihr Winterquartier kam. Er legte das Fernglas auf das Fensterbrett, knipste die Stehlampe neben seinem Sessel an und griff zu Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Nicht wissend, dass das Böse ganz in seiner Nähe war.
Unten am Fluss. Keine einhundertfünfzig Meter von seinem Fenster entfernt.
* * *
Wie viele Tage mochte der Tod wohl schon so dagestanden haben? Mit leicht abstehenden Armen wie kurz vor einem Duell: schwarze Hose, weißes Hemd, etwa einen Meter siebzig groß, dunkle Haare, Seitenscheitel. Auf den ersten Blick sah er aus wie der echte Bojenmann. Bis man ihm ins Gesicht sah, dachte Kommissar Thies Knudsen.
Er hatte schon viele Tote gesehen. Mehr als genug. Weiß Gott. Junge, alte, hübsche, hässliche, bös entstellte, zerstückelte, aber so was? Eine Leiche, wie schockgefroren. Hart und trocken wie eine moderne Mumie. Das hatte er noch nie gesehen. Es war bizarr.
Da stand einer kerzengerade in der Elbe, fast dynamisch, mit guter Körperspannung, wie für die Ewigkeit gemacht. Fast wie das Original aus witterungsbeständigem Eichenholz. Und niemand hatte etwas bemerkt. Bis schließlich ein Paddler mit seinem Kajak ganz dicht am Bojenmann vorbeigefahren war, um ein schnelles Selfie zu machen, bevor ihn die Strömung vorbeitreiben ließ. Doch auch der hatte erst hinterher, Stunden später, zu Hause beim Betrachten gemerkt, dass da etwas nicht stimmte. Und zwar ganz entschieden nicht. Der Bojenmann hatte beim Reinzoomen auf einmal ganz anders ausgesehen. So echt irgendwie. Wie aus einem Horrorfilm. Grotesk. Der Mann hatte die Polizei angerufen. Eine Streife war ans Elbufer gefahren, und kurz darauf waren auch die Feuerwehr und ein Boot der Wasserschutzpolizei vor Ort.
Die Kollegen hatten den Bojenmann inspiziert und schnell erkannt, dass der wohl ein Fall für das Landeskriminalamt war. Und jetzt stand Thies Knudsen, leitender Ermittler des LKA 12, Region Altona, an der Elbe und wunderte sich. Wie vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben.
Wer machte sich so viel Mühe, einen Toten auf diese Weise zu präparieren und aufzubahren? Und warum? Ausgerechnet am Elbuferwanderweg. Im Herbst. Keine fünfzig Meter vom Strand entfernt. In Övelgönne. Mitten im Fluss. Eine makabre Clownerie? Allein der Fundort! Straftat hin oder her. Da hatte sich einer echt Mühe gegeben. Das hier erinnerte eher an eine perverse Performance als an einen gewöhnlichen Mord. Wasserstraßenkunst vielleicht. Fehlte nur noch, dass der Täter einen Hut vor sein Opfer auf den Sockel der Boje gestellt hätte.
An einem sonnigen Tag kamen hier Hunderte, ja Tausende von Passanten vorbei. Nicht wenige davon kehrten in der Strandperle oder im Ahoi mit Blick auf den Bojenmann ein und bestellten Lachsbrötchen oder Pizza. Im Sommer schwammen neuerdings immer welche zu ihm herüber. Benutzten die Tonne als Badeplattform. Sonnten sich auf dem Sockel. Das führte zwangsläufig zu der Frage: Warum hatte niemand etwas gemerkt? Wahrscheinlich lag es daran, dass der Tote den Spaziergängern verächtlich den Rücken zugewandt hatte. Bis dann eben dieser Selfie-Sportler trotz herbstlicher Temperaturen die Elbe hochgepaddelt war.
Knudsens Kollegin, die Forensikerin Susi Diercks, Rufname »Spusi«, war zusammen mit ein paar Kollegen gerade dabei, sich den Toten schon mal vor Ort auf der schwankenden Boje anzusehen und Spuren zu sichern. Knudsen wusste, dass Spusi schnell seekrank wurde. Schon beim Anblick von Wasser wurde ihr schlecht, hatte sie mal gemeint. Aber die Elbe absperren lassen, das Tor zur Welt also einen Tag lang für die Leiterin der Kriminaltechnik dichtzumachen und den Hamburger Hafen lahmzulegen, nur damit der Bojenmann stillhielt? Wunschdenken. Das bekam nicht einmal die Kripo hin – die halbe Weltwirtschaft für einen Tag lahmzulegen. Und die Containerschiffe stattdessen in Bremerhaven löschen zu lassen. Vergiss es, dachte Knudsen. »Ich glaub, ich kleb mir gleich eines von diesen Pflastern hinters Ohr…«, hatte Spusi gemurmelt und sich dann von der Wasserschutzpolizei zum toten Bojenmann bringen lassen.
Eine Frau, die Maden aus fauligstem Fleisch pulte, die uralte Mageninhalte ohne Gasmaske untersuchen konnte, die die unerträglichsten Gerüche und Anblicke ertrug, lief Gefahr, ein erstes Mal sozusagen dienstlich zu kotzen. Heimlich freute sich Knudsen schon auf ihren Bericht, der Abwechslung im Alltag eines Kommissars versprach.
Mit leicht blassem Teint kam sie gut eine Stunde später auf Knudsen zu, der immer noch beobachtend am Ufer stand, stellte den Koffer ab, zog die Handschuhe aus und sagte:
»Thies, frag nicht, so was hab ich noch nie gesehen, gelesen schon, ja, aber gesehen noch nie.«