Gedanken der Lektorin zum Buch
Die Oscarverleihung am 4. März 2018 wirft ihre Schatten voraus. Nicht nur, weil die Academy Awards bereits zum 90. Mal verliehen werden, sondern auch, weil die Veranstaltung vermutlich so politisch sein wird wie schon lange nicht mehr. MeToo-Bewegung, schwarze Outfits bei den Golden Globes als Zeichen der Solidarität mit Opfern sexueller Gewalt und eine erhitzt geführte Debatte darüber, wo Flirten aufhört und Missbrauch anfängt, was noch zum Spiel der Verführung gehört und wo definitiv eine Grenze überschritten wird ― seit dem Bekanntwerden des Weinstein-Skandals reißen Meldungen zu diesem Thema nicht ab.
Es scheint fast, als habe die britische Autorin Naomi Alderman einen Blick in die Zukunft geworfen, als sie ihren im Frühjahr 2017 in England erschienenen Roman »Die Gabe« schrieb. Sie nimmt uns mit in eine Welt, in der Mädchen und Frauen von einem Tag auf den anderen eine Gabe in sich tragen: Sie können anderen Menschen mit bloßen Händen Schmerzen zufügen, ja, sie sogar töten. Im englischen Original heißt der Roman »The Power«, und im Prinzip geht es in »Die Gabe« genau darum: Frauen haben die Macht, Männer haben sie nicht. Und es geht um die Frage, was die Frauen mit ihrer neugewonnenen Macht anfangen. Setzen sie ihre Kraft zum Wohl der Allgemeinheit ein? Wird unsere Welt tatsächlich eine bessere, wenn Frauen die Geschicke lenken? Oder nutzen sie ihre Überlegenheit, um den Schwachen ― denen, die die Gabe nicht haben ― Schaden zuzufügen? Ich glaube, ich verrate an dieser Stelle nicht zu viel, wenn ich sage, dass Sie von den Antworten auf diese Fragen überrascht, vielleicht sogar schockiert sein werden.
Indem sie die Geschlechterverhältnisse einfach umdreht, hält Naomi Alderman der Weltgesellschaft einen ziemlich brutalen Spiegel vor. Natürlich ist »Die Gabe« ein feministisches Buch ― aber eben nicht nur. Es ist auch ein zutiefst menschliches Buch, weil die Autorin darin eine Forderung stellt, die für jeden von uns eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: die Würde des anderen zu achten ― egal ob Mann oder Frau, stark oder schwach. Für mich ist »Die Gabe« damit vor allem ein Roman für unsere Zukunft. Denn nur wenn wir respektvoll miteinander umgehen, hat die menschliche Gesellschaft in den nächsten Jahrhunderten eine Chance zu bestehen.
Ihre Stefanie Brösigke
Lektorin für Fantasy und Science-Fiction im Heyne Verlag
München im Februar 2018