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Du kannst Teil der Sekte werden. Aber du kannst sie nie wieder verlassen ...

New-York-Times-Bestsellerautor Jeffery Deaver mit dem zweiten Band der Colter-Shaw-Reihe

Leseprobe "Der böse Hirte"

Welch eine Reise hinter mir liegt, welch Dinge ich gesehen habe … Gebt mir einen Krug Wasser und einen menschlichen Leib. Gebt mir Luft zum Atmen und eine kräftige Brise, auf der ich aus der Unterwelt emporsteige.

Das altägyptische Totenbuch


EINS


DER MANN AUF DER KLIPPE

11. JUNI, 14.00 UHR


Ihm blieben nur Sekunden.
Nach links ausweichen? Oder nach rechts?
Ins abschüssige Unterholz? Oder über den schmalen Seitenstreifen auf die Steilwand zu?
Nach links.
Instinktiv.
Colter Shaw riss das Lenkrad des Kia herum und bremste stoßweise, um auf der Bergstraße nicht ins Schleudern zu geraten. Der Mietwagen, der bestimmt fünfundsechzig Sachen draufgehabt hatte, verfehlte nur haarscharf den Felsbrocken, der einen schroffen Hügel hinuntergerollt und mitten auf der Straße gelandet war, und tauchte ins Dickicht ein. Shaw hätte sich das Geräusch von zwei Zentnern Gestein, die durch Sträucher und über Geröll walzten, irgendwie dramatischer vorgestellt, aber das alles lief fast lautlos ab.
Und links erwies sich als die richtige Wahl.
Hätte er sich für rechts entschieden, wäre das Auto gegen einen Granitausläufer geprallt, der von hohem beigefarbenem Gras verdeckt wurde.
Shaw, der vor beruflichen Entscheidungen viel Zeit darauf verwandte, die prozentuale Wahrscheinlichkeit von nachteiligen Entwicklungen einzuschätzen, wusste andererseits, dass man sich manchmal auf sein Würfelglück verlassen musste.
Die Airbags lösten nicht aus, und er blieb unverletzt. Aber er war in dem Kia gefangen. Zu seiner Linken erstreckte sich ein Meer aus Mahonien, auch bekannt als Oregons offizielle Staatsblumen, deren nadelspitze Stachelzähne mühelos durch Kleidung und Haut drangen. Dort konnte er also schon mal nicht aussteigen. Auf der anderen Seite sah es deutlich besser aus: etwas Fingerkraut in fröhlich gelber Juniblüte und ein Forsythiengestrüpp.
Shaw stieß die Beifahrertür mehrmals hintereinander auf und drängte so die verschlungenen Pflanzen zurück. Dabei wurde ihm bewusst, dass der Angreifer den Zeitpunkt gut abgepasst hatte. Wäre der Felsbrocken früher aufgeschlagen, hätte Shaw problemlos bremsen können. Und bei etwas mehr Verzögerung wäre Shaw der Waffe zuvorgekommen und nun immer noch auf der Straße unterwegs.
Denn eine Waffe musste es gewesen sein.
Im Bundesstaat Washington waren Erdbeben und alle möglichen seismischen Aktivitäten zwar prinzipiell nichts Ungewöhnliches, aber in dieser Gegend hatte in letzter Zeit gar nichts gebebt. Und Brocken dieser Größe blieben normalerweise liegen, sofern man sie nicht absichtlich weghebelte – damit sie vor oder auf Autos landeten, mit denen Menschen einen flüchtigen bewaffneten Verbrecher verfolgten.
Shaw zog sein braun kariertes Sakko aus und zwängte sich durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Er war gut in Form, ganz wie man es bei jemandem erwarten würde, der in seiner Freizeit senkrechte Felswände emporkletterte. Trotzdem blieb er in der nur etwa fünfunddreißig Zentimeter breiten Öffnung stecken. Er drückte die Tür von sich, wich ins Auto zurück und stieß sie dann erneut wiederholt auf, um die Lücke allmählich zu weiten.
Auf der anderen Straßenseite ertönte lautes Rascheln und Knacken. Der Mann, der Shaw den Felsbrocken in den Weg gerollt hatte, arbeitete sich nun den Hügel hinunter durch den dichten Bewuchs in seine Richtung vor, während Shaw noch darum kämpfte, sich zu befreien. In der Hand des Mannes blitzte etwas auf. Eine Schusswaffe.
Als Sohn eines Survival-Fanatikers und als gewissermaßen auch eigenständiger Überlebensfachmann kannte Shaw zahllose Wege, den Tod zu überlisten. Andererseits war er Felskletterer und begeisterter Motocross-Fahrer und hatte beruflich mit Mördern und entlaufenen Schwerkriminellen zu tun, die vor nichts zurückschreckten, um auf freiem Fuß zu bleiben. Daher war der Tod für ihn ein vertrauter und allgegenwärtiger Begleiter. Doch nicht die Aussicht auf das Ende machte ihm zu schaffen, denn das war für jeden ohnehin unausweichlich. Viel schlimmer für ihn wäre eine unheilbare Verletzung seines Rückgrats gewesen, der Augen oder Ohren, die ihn zum Krüppel machen oder die Welt auf ewig in Finsternis oder Stille versinken lassen würde.
Schon als Kind hatte Shaw unter den drei Geschwistern als »der Rastlose« gegolten. Heutzutage, als erwachsener und ebenso ruheloser Mann, wusste er, dass eine solche Behinderung die reinste Hölle für ihn sein würde.
Er schob sich weiter durch den Spalt.
Fast geschafft.
Na los, komm schon …
Ja!
Nein.
Gerade als er sich vollständig frei wähnte, blieb seine Brieftasche, die hinten links in seiner schwarzen Jeans steckte, an irgendwas hängen.
Der Angreifer hielt inne, beugte sich durch das Unterholz vor und hob die Waffe. Shaw hörte, wie der Hahn gespannt wurde. Ein Revolver.
Und zwar ein großer. Als er abgefeuert wurde, riss der Mündungsknall mehrere grüne Blätter von den Zweigen.
Das Projektil ging fehl und ließ ein Stück neben Shaw die Erde aufspritzen.
Wieder ein Klicken.
Der Mann schoss erneut.
Diese Kugel fand ihr Ziel.

2 11. JUNI, 8.00 UHR, SECHS STUNDEN ZUVOR


Shaw manövrierte sein neun Meter langes Winnebago-Wohnmobil durch die gewundenen Straßen von Gig Harbor im Bundesstaat Washington.
Der etwa siebentausend Einwohner große Ort wirkte sowohl idyllisch als auch ein wenig heruntergekommen. Wie der Name besagte, handelte es sich um einen Hafen, gut geschützt und mit dem Puget Sound durch eine schmale Durchfahrt verbunden, auf der nun Freizeit‑ und Fischerboote entlangglitten. Der Winnebago rollte an mehreren Fabriken und Werkstätten vorbei, teils noch in Betrieb, teils schon lange stillgelegt, die alle mit dem Bau von Booten oder deren unzähligen Bestand‑ und Zubehörteilen zu tun hatten. Für Colter Shaw, seit jeher eine echte Landratte, sah es so aus, als könne man jede Minute eines jeden Tages damit zubringen, ein Boot zu warten, zu reparieren, zu putzen und zu verwalten, ohne auch nur ein einziges Mal damit in See zu stechen.
Ein Schild kündigte die Segnung der Flotte in der Mitte des Hafenbeckens an, doch die Daten verrieten, dass die Zeremonie bereits vor einigen Tagen stattgefunden haben musste.

SPORT‑ UND FREIZEITBOOTE SIND WILLKOMMEN!


Der Branche ging es vielleicht nicht mehr so gut wie früher, und die Organisatoren wollten das Ereignis dadurch aufwerten, dass sie Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute mit ihren Kabinenkreuzern in den Kreis der Fischerboote aufnahmen – immer vorausgesetzt, die Segnung fand tatsächlich in einer Kreisformation statt.
Shaw, ein professioneller Prämienjäger, war wegen eines Auftrags hier – so bezeichnete er für gewöhnlich seine Tätigkeit. Fälle wurden von Polizisten untersucht und von Staatsanwälten vor Gericht gebracht. Wenngleich Shaw in den letzten Jahren eine Vielzahl von Straftätern verfolgt hatte und womöglich einen guten Detective abgegeben hätte, wollte er sich nicht den Hierarchien und Vorschriften unterwerfen, die mit einer solchen Anstellung einhergingen. Es stand ihm frei, Aufträge ganz nach Belieben anzunehmen oder abzulehnen. Und er konnte sie auch jederzeit abbrechen.
Diese Freiheit bedeutete ihm viel.
So dachte Colter Shaw nun über das Hassverbrechen nach, das ihn hergeführt hatte. Auf der ersten Seite des Notizbuchs, das er bei diesen Ermittlungen führen würde, standen die Informationen, die seine Disponentin ihm mitgeteilt hatte:

Ort: Gig Harbor, Pierce County, Washington State.

Prämie ausgesetzt für Informationen zur Ergreifung und Verurteilung zweier Personen:
Adam Harper, 27, wohnhaft in Tacoma.
Erick Young, 20, wohnhaft in Gig Harbor.

Sachverhalt: In dem Bezirk hat sich eine Reihe von Hassverbrechen ereignet, darunter Schmierereien (Hakenkreuze, die Zahlen 88 [Nazi-Symbol] und 666 [Zeichen des Teufels]) auf Synagogen und einem halben Dutzend Kirchen, vornehmlich mit überwiegend schwarzen Gemeinden. Am 7. Juni wurde die Brethren Baptist Church von Gig Harbor verunstaltet und ein brennendes Kreuz davor aufgepflanzt. Ursprünglich wurde vermeldet, die Kirche selbst sei in Brand gesteckt worden, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ein Hausmeister und ein Laienprediger (William DuBois und Robinson Estes) liefen nach draußen und stellten sich den zwei Verdächtigen entgegen. Harper schoss die beiden Männer daraufhin mit einer Faustfeuerwaffe nieder. Der Prediger konnte inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen werden, der Hausmeister liegt weiterhin auf der Intensivstation. Die Täter sind mit einem roten Toyota Pick-up geflohen, zugelassen auf Adam Harper.

Beteiligte Behörden: das Amt für Öffentliche Sicherheit des Pierce County in Abstimmung mit dem US-Justizministerium, das derzeit prüft, ob es sich um ein Hassverbrechen in Zuständigkeit des Bundes handelt.

Anbieter und Höhe der Belohnung:
Prämie eins: 50 000 Dollar, ausgesetzt vom Pierce County, garantiert durch den Kirchenrat von West-Washington (und den Hauptspender des Betrags, Ed Jasper, Gründer von Micro-Enterprises NA).
Prämie zwei: 900 Dollar, ausgesetzt von Erick Youngs Eltern und Familienangehörigen.


Besonderheiten: Dalton Crowe ist auf die Belohnung aus.

Dieser letzte Umstand gefiel Shaw gar nicht.
Crowe war ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse. Der Mittvierziger hatte nach seinem Militärdienst eine Sicherheitsfirma an der Ostküste eröffnet, damit aber wenig Erfolg gehabt und den Laden wieder geschlossen. Seitdem arbeitete er als freier Sicherheitsberater, Söldner und von Zeit zu Zeit auch als Prämienjäger. Shaws und Crowes Wege hatten sich mehrere Male gekreuzt, bisweilen auch gewaltsam. Sie gingen diesen Beruf unterschiedlich an. Crowe interessierte sich so gut wie nie für vermisste Personen, sondern jagte stets gesuchte Verbrecher oder entflohene Strafgefangene. Wenn man einen solchen Flüchtigen mit einer legalen Waffe und in Notwehr erschoss, bekam man trotzdem die Belohnung und landete meistens nicht hinter Gittern. Mit diesem Ansatz war Crowe das genaue Gegenteil von Shaw.
Shaw war sich nicht sicher gewesen, ob er den aktuellen Auftrag übernehmen wollte. Zwei Tage zuvor hatte er noch auf einem Gartenstuhl im Silicon Valley gesessen und eigentlich geplant, einer anderen Angelegenheit nachzugehen. Diese zweite Mission war persönlicher Natur und hatte mit seinem Vater und einem Geheimnis aus der Vergangenheit zu tun – einem Geheimnis, für das Shaw sich beinahe ein paar Kugeln in Ellbogen und Kniescheiben eingefangen hätte, aus der Pistole eines Killers mit dem komischen Namen Ebbitt Droon.
Das Risiko, verletzt zu werden, schreckte Shaw jedoch nicht ab, zumindest nicht, solange es sich in vernünftigem Rahmen hielt. Daher wollte er die Suche nach dem versteckten Schatz seines Vaters auch unbedingt fortsetzen.
Dann aber war er zu dem Schluss gelangt, dass die Ergreifung zweier offenkundiger Neonazis Priorität besaß, zumal die beiden bewaffnet waren und bereit schienen, über Leichen zu gehen.
Das Navigationsgerät lotste ihn nun durch die hügeligen und kurvenreichen Straßen von Gig Harbor, bis er die gesuchte Adresse fand, ein hübsches eingeschossiges Wohnhaus, dessen heiterer gelber Anstrich in krassem Gegensatz zu dem wolkenverhangenen grauen Himmel stand. Shaw sah in den Spiegel und strich sich das kurze, eng anliegende blonde Haar glatt. Es war nach einem zwanzigminütigen Nickerchen etwas zerzaust, Shaws einziger Pause während der zehnstündigen Fahrt von San Francisco hierher.
Er hängte sich seine Computertasche über die Schulter, stieg aus dem Wohnmobil, ging zur Haustür und klingelte.
Larry und Emma Young baten ihn hinein, und er folgte dem Ehepaar ins Wohnzimmer. Shaw schätzte die beiden auf Mitte vierzig. Ericks Vater hatte schütteres graubraunes Haar und trug eine beigefarbene Stoffhose sowie ein kurzärmeliges, makellos weißes T‑Shirt. Er war glatt rasiert. Emma kaschierte ihre Figur mit einem rosafarbenen Glockenkleid. Sie hatte für den Besucher frisches Make‑up aufgelegt, ahnte Shaw. Verschwundene Kinder bedeuteten einen großen Einschnitt, sodass regelmäßige Duschen und persönliche Kleinigkeiten oft vernachlässigt wurden. Nicht so hier.
Zwei Stehlampen verbreiteten Kreise aus heimeligem Licht im ganzen Raum. Die Tapete trug ein Muster aus gelben und rostbraunen Blumen, und auf der dunkelgrünen Auslegeware lagen orientalisch anmutende Teppiche, wie man sie im Baumarkt bekam. Ein angenehmes Zuhause. Bescheiden.
An einer Garderobe neben der Tür hing eine braune Arbeitsjacke. Sie war aus dickem Stoff und ziemlich fleckig. Auf der Brust war der Name Larry eingestickt. Shaw vermutete, dass der Mann als Mechaniker arbeitete.
Auch die Eheleute nahmen Shaw prüfend in Augenschein: das Sakko, die schwarze Jeans, das graue Button-Down-Hemd, die schwarzen Slipper. Also mehr oder weniger seine gängige Berufskleidung.
»Bitte setzen Sie sich, Sir«, sagte Larry.
Shaw entschied sich für einen bequemen, dick gepolsterten Lehnsessel aus leuchtend rotem Leder. Die Youngs nahmen gegenüber von ihm Platz. »Haben Sie seit unserem Gespräch etwas von Erick gehört?«
»Nein, Sir«, sagte Emma Young.
»Was ist der letzte Stand seitens der Polizei?«
»Er und dieser andere Mann, Adam, sind angeblich noch irgendwo hier in der Gegend«, sagte Larry. »Der Detective glaubt, dass die beiden Geld zusammenkratzen, also es sich irgendwo leihen oder vielleicht stehlen …«
»So etwas würde er nicht tun«, warf Emma ein.
»Das denkt aber die Polizei«, erklärte Larry. »Ich sage doch nur, was die mir erzählt haben.«
Die Mutter schluckte schwer. »Er hat noch nie … Ich meine, ich …« Sie fing an zu weinen – erneut. Ihre Augen waren bei Shaws Ankunft zwar trocken, aber gerötet und angeschwollen gewesen.
Er zog ein Notizbuch aus der Computertasche und nahm seinen Delta-Titanio-Galassia-Füllfederhalter schwarz, mit drei orangefarbenen Ringen zur Spitze hin. Shaw wollte mit dem Schreibgerät weder angeben, noch empfand er es als besonderen Luxus. Er machte sich im Verlauf seiner Aufträge nur umfangreiche Notizen und musste seine Hand dabei auf diese Weise weniger anstrengen. Außerdem bereitete das Schreiben ihm so ein wenig Freude.
Shaw notierte sich nun das Datum und die Namen der beiden Eheleute. Dann blickte er auf und bat um nähere Einzelheiten über das Leben des Sohnes: Erick studierte und hatte einen Teilzeitjob. Derzeit waren Semesterferien. Er wohnte noch zu Hause.
»Hat Erick früher schon mal mit Neonazis oder anderen Extremistengruppen zu tun gehabt?«
»Herrje, nein«, murmelte Larry, als könne er die Frage langsam nicht mehr hören.
»Das ist doch alles verrückt«, sagte Emma. »Er ist ein guter Junge. Na ja, es gab ein paar Schwierigkeiten, so wie bei allen anderen auch. Mit Drogen – ich meine, nach allem, was passiert ist, kann man das verstehen. Er hat sie bloß mal ausprobiert. Die Schule hat angerufen. Ohne Polizei. Das haben die gut geregelt.«
Larry verzog das Gesicht. »Pierce County gilt als das Meth‑ und Drogenzentrum des Staates. Sie sollten mal die ganzen Zeitungsartikel sehen. Vierzig Prozent von all dem Meth in Washington wird hier bei uns hergestellt.«
Shaw nickte. »Hat Erick Meth genommen?«
»Nein, dieses Oxy-Zeug. Nur vorübergehend. Er hat auch Antidepressiva eingenommen. Nimmt er immer noch.«
»Sie haben gerade gesagt ›nach allem, was passiert ist‹. Was meinen Sie damit?«
Die beiden sahen sich an. »Wir haben vor sechzehn Monaten unseren jüngeren Sohn verloren.«
»Wegen Drogen?«
Emmas Hand, die auf ihrem Oberschenkel lag, ballte sich zur Faust und zerknitterte das Kleid. »Nein. Er war auf seinem Fahrrad unterwegs und wurde von einem Betrunkenen überfahren. O Gott, das war schlimm. So schlimm. Und am schlimmsten für Erick. Es hat ihn verändert. Die zwei haben sich sehr nahegestanden.«
Brüder, dachte Shaw, der nur zu gut verstand, was für komplizierte Gefühle mit einer solchen Beziehung einhergingen.
»Aber er würde niemanden verletzen«, sagte Larry. »Und nichts Böses tun. Das hat er noch nie. Außer diese Sache bei der Kirche.«
»Das war er nicht«, herrschte seine Frau ihn an. »Du weißt, dass er das nicht war.«
»Laut den Zeugen hat Adam geschossen«, sagte Shaw. »Ich habe noch nichts über die Herkunft der Waffe gehört. Besitzt Erick eine? Oder hat er eventuell Zugang dazu?«
»Nein.«
»Dann dürfte es sich um die Waffe seines Freundes handeln.«
»Seines Freundes?«, fragte Larry. »Adam war keiner seiner Freunde. Wir hatten noch nie von ihm gehört.«
Emma wickelte sich geistesabwesend den Saum ihres Kleides um die geröteten Finger. Eine Angewohnheit. »Der hat auch das mit dem Kreuz gemacht, es angezündet. Und die Schmierereien. Alles! Adam hat Erick gekidnappt. So muss es gewesen sein. Er hatte eine Waffe und hat Erick gezwungen, mit ihm zu kommen. Hat ihm sein Auto abgenommen und ihn ausgeraubt.«
»Die beiden waren aber mit Adams Wagen unterwegs, nicht mit dem von Erick.«
»Das kann ich erklären«, behauptete die Mutter. »Erick war bestimmt so geistesgegenwärtig und hat den Schlüssel weggeworfen.«
»Hat er ein eigenes Bankkonto?«
»Ja«, sagte der Vater des Jungen.
Demnach würden die Eltern nichts von etwaigen Abhebungen wissen. Die Polizei konnte das herausfinden, auch hinsichtlich der Bankfilialen, die Erick aufgesucht hatte. Vermutlich war das bereits geschehen.
»Wissen Sie, über wie viel Geld er verfügt? Könnte er damit sehr weit kommen?«
»So etwa zweitausend Dollar, schätze ich.«
Shaw hatte sich im Raum umgeschaut und dabei vornehmlich auf die Fotos der beiden Söhne der Youngs geachtet. Erick sah gut aus, mit buschigem braunem Haar und unbeschwertem Lächeln. Aus den Medien kannte Shaw auch schon zwei Bilder von Adam Harper. Es waren zwar keine Polizeifotos, doch der junge Mann blickte jeweils argwöhnisch in die Kamera. Er trug kurzes blondes Haar mit blauen Strähnchen und wirkte ausgemergelt.
»Ich werde der Sache nachgehen und versuchen, Ihren Sohn zu fin-den.«
»Oh, gern, bitte«, sagte Larry. »Sie sind ganz anders als dieser grobe Kerl.«
»Den konnte ich nicht ausstehen«, murmelte Emma.
»Dalton Crowe?«
»Ja, so hieß er. Ich habe zu ihm gesagt, er solle verschwinden. Ich würde ihm keine Belohnung zahlen. Er hat gelacht und erwidert, die könne ich mir sonst wohin stecken. Er sei sowieso hinter dem großen Betrag her, Sie wissen schon – den fünfzigtausend, die das County ausgesetzt hat.«
»Wann war er hier?«
»Vorgestern.«
Shaw notierte sich: D. C. sucht Anbieter auf. 9. Juni.
»Lassen Sie mich Ihnen erläutern, wie ich vorgehe. Es wird Sie nichts kosten, solange ich Erick nicht gefunden habe. Ich berechne auch keine Spesen. Falls ich ihn ausfindig mache, schulden Sie mir die besagten neunhundert Dollar.«
»Es sind inzwischen eintausendsechzig Dollar«, verkündete Larry stolz. »Einer meiner Cousins hat sich beteiligt. Ich wünschte, es wäre mehr, aber …«
»Ich weiß, Sie möchten, dass ich Erick zu Ihnen heimbringe. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Es wird nach ihm gefahndet, und ich würde mich dadurch strafbar machen.«
»Wegen Beihilfe«, sagte Emma. »Das kenne ich aus dem Fernsehen.«
Colter Shaw lächelte eigentlich nur selten, aber bei Treffen wie die-sen schien es die Anbieter zu beruhigen. »Ich nehme aber auch niemanden in Gewahrsam. Mein Geschäft sind Informationen, nicht Jedermann-Festnahmen. Falls es mir gelingt, Erick aufzuspüren, werde ich die Polizei nicht davon in Kenntnis setzen, solange nicht sicherge-stellt ist, dass weder ihm noch einer anderen Person Gefahr droht. Sie werden einen Anwalt benötigen. Kennen Sie einen?«
Die beiden sahen sich ein weiteres Mal an. »Uns hat mal jemand bei einem Vertrag beraten«, sagte Larry.
»Nein, Sie brauchen einen Strafverteidiger. Ich besorge Ihnen ein paar Namen.«
»Wir haben nicht das … Oder wir könnten vielleicht einen Kredit auf unser Haus aufnehmen.«
»Das werden Sie wohl müssen. Erick braucht einen fähigen Rechtsbeistand.«
Shaw überflog seine Notizen. Seine Handschrift war sehr klein und wegen ihrer Ebenmäßigkeit sogar mal als graziös bezeichnet worden. Das Notizbuch war unliniert. Shaw hatte das nicht nötig. Jede Zeile verlief perfekt waagerecht.
Während der nächsten zwanzig Minuten stellte Shaw weitere Fragen, und das Ehepaar antwortete ihm. Im Verlauf der Unterredung gewann er den Eindruck, dass der unerschütterliche Glaube an die Unschuld ihres Sohnes nicht gespielt war; die beiden konnten einfach nicht akzeptieren, dass der Sohn, den sie kannten, zu einem solchen Verbrechen fähig sein würde. Schon der bloße Gedanke erschien ihnen absurd. Adam Harper musste der einzige Täter sein.
Als Shaw der Ansicht war, vorläufig genug erfahren zu haben, steckte er Stift und Notizbuch ein, stand auf und verabschiedete sich. Die Eltern versprachen, ihm mitzuteilen, was sie von der Polizei erfuhren oder ob Erick womöglich Freunde oder Verwandte kontaktiert und um Geld oder anderweitige Hilfe gebeten hatte.
»Danke«, sagte Emma an der Tür und schien in Erwägung zu ziehen, ihn zu umarmen. Sie beließ es dabei.
Es war der Ehemann, der von seinen Gefühlen überwältigt wurde. Er bekam keinen zusammenhängenden Satz heraus und drückte Shaw schließlich einfach die Hand. Dann wandte Larry sich ab, bevor die erste Träne rollte.
Auf dem Weg zu seinem Winnebago dachte Shaw an den einen Punkt, den er Emma und Larry verschwiegen hatte: dass er von den Familienangehörigen keine Belohnung einforderte, falls die gesuchte Person nicht mehr am Leben sein sollte. Es hätte nichts genützt, diese Möglichkeit auch nur zu erwähnen, wenngleich Shaw insgeheim befürchtete, dass Erick Young ermordet worden war, sobald Adam Harper keine Verwendung mehr für ihn gehabt hatte.

Oder gleich reinhören?

Gelesen von James-Bond-Stimme Dietmar Wunder


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Jeffery Deaver
© Derek Henthorn

Der Autor

Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Wie kaum ein anderer beherrscht der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffery Deaver den schier unerträglichen Nervenkitzel, verführt mit falschen Fährten, überrascht mit blitzschnellen Wendungen und streut dem Leser auf seine unnachahmliche Art Sand in die Augen. Seit dem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht. Die kongeniale Verfilmung seines Romans »Die Assistentin« unter dem Titel »Der Knochenjäger« (mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen) war weltweit ein sensationeller Kinoerfolg und hat dem faszinierenden Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhyme und Amelia Sachs eine riesige Fangemeinde erobert.