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Rezension zu
Meine dunkle Vanessa

Lesen, um zu begreifen

Von: Agathe_liest
04.09.2020

Seite 304 " Ich will es. Weil ich es wollen muss." Viel Rede- und Diskussionsbedarf bietet dieses Buch - dieser komplexen, nicht vereinfachenden Darstellung von emotionalem und körperlichem Missbrauch und dessen Folgen für die Opfer. Der Inhalt ist mittlerweile hinlänglich beschrieben – die 15jährige Schülerin Vanessa beginnt ein Verhältnis mit ihrem 30 Jahre älteren Lehrer Jacob Strane und muss sich, nachdem dieser viele Jahre später von anderen des Missbrauchs beschuldigt wird, damit auseinandersetzen. Sehr klug führt Russell schon ganz zu Anfang auf, dass es absolut keine Irritationen geben kann, wer hier Täter und Opfer ist. Da ganz klar aufgezeigt ist, dass Strane von Beginn an manipuliert, Vanessa in emotionale Abhängigkeit führt, seine Machtposition ausnutzt, kann kein aufmerksamer Leser in die irrige Annahme geraten, dass hier Vanessa auch nur den kleinsten Anteil an dem Missbrauchsgeschehen hat. Sie ist in der Phase der Selbstfindung, fühlt sich unsicher, allein und orientierungslos, auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Sie glaubt, verliebt zu sein. Sie lässt sich führen und sie sagt nicht nein, ist unfähig, Missbrauch als solchen und das, was dieser mit ihr als Person anrichtet, zu erkennen. Ihre vermeintliche Zustimmung, auf die sich Strane letztlich beruft, und die sie sich selbst auch einredet und als Liebe missdeutet, basiert auf seiner Manipulation und ihrer Suche nach Anerkennung. Dies kann nie die Grundlage einer selbstbestimmten Entscheidung sein. Darum ist es wichtig, sich dieses immer wieder klarzumachen - damit deutlich wird, dass derartiger Machtmissbrauch, ob nun durch Jacob Strane, die reichen und mächtigen Verführer dieser Welt oder von Herrn Meier von nebenan niemals zu akzeptieren ist, niemals Rechtfertigung erfährt durch vermeintliches Genehmigen des Opfers selbst. Es ist sehr bedrückend zu lesen, wie Vanessa im Laufe der näheren Bekanntschaft mit Strane die tatsächliche Machtfrage für sich umkehrt, was das Ausmaß der Manipulation anzeigt. Sie glaubt, sie hätte alle Fäden des Tuns in der Hand, während aber Strane derjenige ist, der sie in diesen Irrglauben hineingeführt hat. Eine fatale Umkehr der Täter-/Opferrolle in Vanessas Wahrnehmung, indem sie Strane zum Opfer seiner und ihrer Wünsche macht. Seite 197 "ich weiß, dass er dich missbraucht," sagt sie. ... "Mich missbraucht?“ Stranes ständige Erwähnung, dass Vanessa nie wollte dass er aufhört, ist nicht erst Dank #metoo eine inakzeptable Verteidigungshaltung, deren machtverschiebender Inhalt glücklicherweise mittlerweile die verdiente gesellschaftliche Ächtung erfährt. Vanessa hat nie gelernt, nein zu sagen, weil sie in ihrer Manipulation gefangen ist und sich nie mit ihren eigenen Bedürfnissen auseinandergesetzt hat – dass diese wertvoll sind und von niemandem entwertet werden dürfen. Strane versucht ihre Erinnerung zu manipulieren, indem er ihr Situationen einredet, er wertet sie ab, beleidigt sie zum Zwecke der Beeinflussung, damit sie sich klein, schäbig und unwert fühlt. Und sie? Sie kann mit niemandem darüber reden – und Strane macht ihr klar, dass sie dies nicht darf, dass dies schwerwiegende Konsequenzen für ihn und auch für sie hätte, die sie ängstigen und verunsichern. Er hält Vanessa in der emotionalen Schraubzwinge. Sie lebt in Gefühlsverwirrung und innerer Ödnis. Seite 178 „Aber mein Gott, Vanessa, möchtest du wirklich, dass dich das für den Rest deines Lebens verfolgt? Denn wenn du das tust, wenn du an die Öffentlichkeit gehst, wirst du es nie wieder los..“ Allen, die noch vage sind in ihrer Einschätzung hinsichtlich der Einschätzung der Beziehung lege ich den letzten Absatz Seite 129 ans Herz - hier ist der ganze Roman in wenigen Sätzen zusammengefasst, alles auf einen Punkt gebracht. Strane vergewaltigt. Und Vanessa nimmt es hin, weil sie glaubt, die sei es ihm schuldig, hätte eine unausgesprochene Vereinbarung fehlinterpretiert, gibt sich somit selbst die Schuld. Seite 225 "Sie verstand nicht, wie der eigene Körper die Hauptrolle in etwas spielt, dem man vom Verstand her nicht zugestimmt hat.“ Als Erwachsene bleibt Vanessa traumatisiert. Lauernd auf Aufmerksamkeit spiegelt sie ihren Wert im Zuspruch anderer wieder. Und ist lange nicht in der Lage, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, sie aufzuarbeiten. Missbrauch ist allgegenwärtig – und er darf nicht bagatellisiert werden durch eine Opfer-/Täterumkehr. Wichtig ist die Enttabuisierung der Opfer, denen die Möglichkeit gegeben werden muss, dies verarbeiten zu können und darüber zu reden, ohne be- und verurteilt zu werden. Der Roman ist auf verschiedensten Ebenen wichtig. Ein wenig besprochener Punkt ist für mich mit der wichtigste: der Appell an Verständnis und Mitgefühl für die Opfer, die sich erst spät, sehr spät – oder auch nie – äußern, sprechen, offenbaren. Es gibt für Missbrauchsopfer diverse Gründe, sich nicht zu öffnen, auch über Jahre hinweg nicht. Es geht dabei auch immer um Selbstschutz. Und auch nach Jahren und Jahrzehnten darf von außen nicht beurteilt werden, wann für die Opfer der richtige Zeitpunkt ist, darüber zu sprechen, sich damit auseinanderzusetzen. Oft wird Opfern nach Jahrzehnten fatalerweise die Glaubwürdigkeit abgesprochen – was ignorant und degradierend ist. All die, die sich solch ein Urteil erlauben: lest dieses Buch und begreift! Schämt euch und begreift! Begreift, dass Opfer sein nicht nur die Tat als solche betrifft, sondern das gesamte Leben dadurch gezeichnet wird. Dass reden schwer ist. Eingestehen schwer ist. Und die unreflektierte Bezeichnung als Lüge unerträglich. Sofern es auch nur einigen neue Zugänge zu diesem wichtigen Thema eröffnet, hat sich die Veröffentlichung des Buches mehr als gelohnt. Der Roman hat durchaus Längen und Wiederholungen und ist sprachlich auch eher konventionell verfasst. Die Figurenzeichnung ist zentriert auf Strane und Vanessa – alle Randfiguren kann man nur als konturlos bezeichnen. Zu aufdringlich beschworen wird mir die Bezugnahme auf Nabokovs Lolita. Zu Beginn wird dies als perfider Zug Stranes zur Legitimierung seiner Straftat gebraucht, indem er Vanessa mit dem Buch bekannt macht – nutzt sich aber im Laufe des hiesigen Romans deutlich ab und lenkt von der Authentizität der Geschichte ab. Habe ich es gern gelesen? Nein. Ist es wichtig es zu lesen? Absolut. Würde ich es weiterempfehlen? Ja, wenn man bereit ist zur Auseinandersetzung mit eigenen Positionen. Und das Buch nicht nur liest, weil es grad in den Medien sehr präsent ist. Ich habe leider romantisierende Rezensionen gelesen, die mich erschreckt und erschüttert haben. Ein abschließendes Wort noch zu den Triggerwarnungen, die hier oftmals erbeten werden: Ich persönlich halte nichts von Triggerwarnungen, da es wichtig ist, sich diversen Themen zu stellen, um sich zu positionieren. Das Leben enthält auch keine Triggerwarnung. Und Bücher bieten die Möglichkeit, die Seiten zuzuklappen und sie wegzulegen, wenn man sie nicht erträgt. „Meine dunkle Vanessa“ ist kein uneingeschränkt gutes, aber ein wichtiges Buch. Für jeden. Weil es den Blick weitet. .✒ übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer ✒ .

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