Rezension zu
Vom Frühling und von der Einsamkeit
Weimarer Sittenbild oder der Gerichtssaal als Bühne einer Epoche
Von: buecherundschokoladeGabriele Tergit hat mit ihrem Gesellschaftsroman Effingers einen Jahrhundertroman geschrieben, der teilweise mit Buddenbrooks verglichen wird & dessen Neuauflage 2019 sie fast vier Jahrzehnte nach ihrem Tod 1982 wieder deutschlandweit berühmt machte. In der frühen Weimarer Republik war Elise Reifenberg - so Tergits bürgerlicher Name - vor allem als Journalistin sehr erfolgreich & für ihre Gerichtsreportagen, die in der Weltbühne oder dem Berliner Tageblatt erschienen, berühmt. Die interessantesten Reportagen sind im vorliegenden Band Vom Frühling und von der Einsamkeit versammelt. Tergit zeichnet in den Reportagen, die bis auf eine Ausnahme alle zwischen 1924 & 1933 erschienen sind, ein buntes Sittenbild der Zwischenkriegsjahre. Das ist manchmal lustig, wenn missgünstige & zanksüchtige Nachbarinnen sich in Beleidigungen & Meineiden ergehen, mal tragisch, wenn Frauen wegen Abtreibungen (auch damals 218) gnadenlos verfolgt werden. Es treten auf: falsche Adlige, alte Jungfern, Heiratsschwindler, gefallene Mädchen, lustige Dirnen, Kuppler, Totschläger, aber auch Prominente. Etwa der wegen Beleidigung (seines Zahnarztes) angeklagte Alfred Döblin oder rasende Ufa-Schauspielerinnen. Aber auch die düstere politische Situation wirkt sich in den Gerichtssälen mehr & mehr aus. Regelmäßig finden sich Nazis & Kommunisten auf der Anklagebank, wobei Zweitgenannte mit Abstand härter bestraft werden. Gut, dass es engagierte Verteidiger wie Hans Litten gibt. Und der Rechtsstaat stirbt auf Raten, als die Reichsregierung unter Franz v. Papen 1932 Sondergerichte einführt, Verteidigungsrechte eingeschränkt & Rechtsmittel gegen Urteile (Todesurteile!) ausgeschlossen werden. Der lakonische & gleichzeitig ironische Stil der Reportagen hat mir gut gefallen. Tergit hält auch mit ihren Ansichten nicht hinterm Berg, sie schreibt im besten Sinne als engagierte Journalistin. Daher eine entschiedene Empfehlung für diese Reportagensammlung, die eine eindringliche & spannende Lektüre darstellen.
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