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Tom Franz Sehnsucht Israel

Tom Franz: Sehnsucht Israel

Auszug aus Tom Franz: Sehnsucht Israel. (Kapitel 3)

Mein Leben zwischen Kippa, Küche und Koriander

Tom Franz
© privat
[…] Einige Tage später erlebte ich einen Moment, der meinen ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzog. Es war eine unglaubliche Gefühlsaufwallung. Es war im April, zehn Uhr morgens, und ich lief gerade im Zentrum von Jerusalem über den Zionsplatz, als auf einmal ein ohrenbetörender Sirenenton losging, ein, zwei Minuten lang anhaltend. Eindringlich. Beängstigend. Mahnend. Wie bei einem Bombenalarm. Mit dem ersten Ton hielten sämtliche Busse und Autos an. Die Menschen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln oder einem Wagen saßen, stiegen aus und verharrten stehend neben den Gefährten, und auch die Menschen, die in den Cafés plaudernd gesessen hatten, hatten ihre Stühle verrückt und standen schweigend mit gesenkten Häuptern da. Was hatte das zu bedeuten?

Ein Passant, der neben mir stand und wohl meine Verwirrung bemerkt hatte, flüsterte mir zu: »Heute ist Jom haScho’a, der Gedenktag für die Opfer des Holocausts.« Nun verstand ich. Man hatte uns ja gestern Abend davon erzählt. Wir bräuchten nicht loszuziehen, um auszugehen, denn am Abend wäre alles geschlossen, selbst in Tel Aviv seien die Straßen dann gespenstisch leer. Auf den Sirenenton, der, wie ich hinterher erfuhr, überall im Land zu hören ist, jeder Rundfunksender, jede Fernsehstation strahlt ihn aus, war ich nicht vorbereitet gewesen.

Aber wie erinnerte man sich in zwei Minuten an sechs Millionen Tote? Es bleibt unfasslich, egal wie viel Zeit man sich nimmt. Trotzdem ist das die Zeit, in der sich alle Juden konzentriert damit beschäftigen, was mit ihrem Volk unter dem Nationalsozialismus geschehen ist. Der Ton der Sirene traf mich bis ins Mark. Ich kam aus dem Land, wo das Volk lebte, das diese sechs Millionen Menschen vernichtete, in dem ein Antisemitismus herrschte, der zur Schoah führte. Ich kam aus dem Land der Täter.

Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut, in diesem Augenblick wünschte ich mir einen anderen Pass. Weil das nicht möglich war, betrachtete ich die Menschen um mich herum, ihre ernsten Gesichter, in manchen Augen konnte ich ein Glitzern entdecken, Tränen. Es war ihnen anzumerken, dass sie an Menschen dachten, die nicht mehr unter ihnen weilten. Menschen aus der engsten Familie, Angehörige von Freunden, von Arbeitskollegen oder vom Ladenbesitzer nebenan. Ich hatte so viel in den letzten Wochen über die Schoah gelesen, war vor Jahren mit den israelischen Schülern in Buchenwald und zuletzt mit der ASF in Auschwitz gewesen – doch es war etwas ganz anderes, einen solchen Augenblick inmitten von Jerusalem zu erfahren.

In mir geschah etwas, was ich damals noch nicht zu benennen wusste. Eine Umwandlung, die viele Jahre dauern sollte. Aus mir, einem Menschen, der sich als Freund von Israel gefühlt hatte, wurde jemand, der im Laufe der nächsten Jahre eine Zugehörigkeit empfand. Und es sollte noch länger dauern, bis ich dann an dem Punkt angelangt war, dass ich jüdisch werden wollte. Spätestens an diesem Tag fing eine Art Spaltung an. Und ich hatte mir später eine gefaltete Kippa in die Tasche gesteckt. Ich holte mir bei Erklingen der Gedenksirene die Kippa hervor und setzte sie auf. In diesem Augenblick fühlte ich mich besser. Es war nicht bloß ein Zeichen der Solidarisierung, sondern ich fühlte mich ein Stück weit wie einer von ihnen. […]