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Martin Becker im Interview zu seinem Roman "Die Arbeiter"

„Man will immer erst dann nach Hause, wenn es nicht mehr geht“

Martin Becker im Interview über seinen Roman „Die Arbeiter“ - eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu

Hart arbeiten, danach Feierabend mit Bier, Korn und Zigaretten im Reihenhaus, für das man mühevoll den Kredit abstottert, und ab und an ein paar Tage Urlaub an der Nordsee - so lässt sich das Leben der Figuren in Ihrem neuen Roman „Die Arbeiter“ zusammenfassen. Im Klappentext des Buches steht: „Eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu“. Stirbt es tatsächlich aus? Und wenn ja: Warum tun wir gut daran, es im Gedächtnis zu bewahren?

Die Statistik ist da eindeutig: Der klassische „Arbeiter“, wie ich ihn aus meiner Kindheit kenne, spielt kaum mehr eine Rolle. Und dennoch hat das Milieu ja viele Generationen geprägt – so auch mich in vielerlei Hinsicht. Diese Herkunft aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt ist was Besonderes, mit allen Ecken und Kanten, mit allen positiven wie negativen Aspekten. Deshalb wollte ich diese Geschichte nochmal aufschreiben, sehr ehrlich, durchaus kritisch, vor allem aber mit viel Liebe für die, man muss es in meinem Fall sagen, tatsächlich Verschwundenen, die wir nur noch auf dem Kleinstadtfriedhof besuchen können.

Schon in Ihren Romanen „Marschmusik“ und „Kleinstadtfarben“ finden sich autobiographische Elemente wie die harte Arbeit unter Tage, das Reihenhaus, die Kleinstadt, die vielen Zigaretten. In „Die Arbeiter“ gehen Sie noch einen Schritt weiter und erzählen sehr nah an Ihrem eigenen Leben entlang. Warum lässt Sie die Herkunft nicht los?

Es gibt einen Satz in meinem Roman, mit dem ich versuche, dieses Gefühl einzufangen, das mich immer wieder an den Schreibtisch treibt: „Aber man will ja immer erst dann nach Hause, wenn es nicht mehr geht.“ Tatsächlich kenne ich das sehr gut. Meine Eltern sind nicht mehr da, meine Schwester ist nicht mehr da, unser Reihenhaus ist nicht mehr da – und ja, ich bin vielleicht nostalgisch und melancholisch, ich will noch etwas davon bewahren, damit es nicht ganz verschwindet. Und mir war klar, dass ich diesmal noch radikaler sein muss, wenn ich den bisherigen Büchern etwas hinzufügen möchte – also habe ich die Autofiktion als Mittel gewählt. Es ist sehr nah an meinem Leben und zugleich durch Verfremdungen auch ein Stück weit entfernt, diese Distanz brauchte es an manchen Stellen, denn es ist ja immer noch Literatur und keine nostalgische Erinnerung an Zigaretten im Reihenhauswohnzimmer, das war mir ganz wichtig. Außerdem geht das Buch ja einen Schritt weiter – der Blick zurück ist nur eine Perspektive, der Schritt nach vorn ein ganz wichtiger Aspekt: Wie geht man mit der Herkunft um, wenn plötzlich eigene Kinder da sind? Und was kriegt man auch in der eigenen kleinen Familie nicht besser hin als die Malochereltern? Und ist das wirklich immer so schlimm?

Obwohl es im Roman viele tragische Momente gibt, muss man als Leser*in immer wieder laut auflachen. Der Humor dient hier nicht nur zur Bewältigung von Schicksalsschlägen, sondern eröffnet auch ein tieferes Verständnis für die Figuren. Wie wichtig ist Humor für Sie?


Humor ist absolut entscheidend! Immer! Ständig! Das habe ich von meinen Eltern geerbt und gelernt. So schlecht konnte es uns gar nicht gehen, dass es nicht doch noch zu einem Witz gereicht hätte. Wahrscheinlich liebe ich deshalb Samuel Beckett bis heute auch so sehr, der hat geschrieben: „Bis zum Äußersten gehen - dann wird Lachen entstehen.“ Ich meine, im Gegensatz zu mir war der Mann Nobelpreisträger, der musste es wirklich wissen, oder?

Im Buch fühlt sich die Hauptfigur Martin als Student für Kreatives Schreiben an der Uni Leipzig zwischen den Töchtern und Söhnen der akademischen Mittelschicht komplett fehl am Platz. Gibt es so etwas wie Scham bei Arbeiterkindern im bildungsbürgerlichen Milieu? Und steckt darin nicht auch die Chance, als Autor ein breiteres, vielleicht auch tieferes Verständnis für die Menschen zu entwickeln?

Ich habe erst mit dem Abstand vieler Jahre bemerkt, dass es da wirklich eine auf den ersten Blick nahezu unsichtbare Kluft gibt: Meine Zeit am Literaturinstitut war im Grunde nicht von dieser Scham geprägt, ich war da der Klassenclown, trug die XXL-Hawaii-Hemden meines mittlerweile verstorbenen Onkels Walter aus dem Ruhrgebiet auf und kaufte mir einen fünffach reduzierten, senfgelben Cordmantel, den ich stolz wie sonstwas bei der nächsten Institutsfeier trug. Irgendwie war ich selig und richtete mich in meinem Außenseitertum ein, und zwar sehr laut und selbstbewusst. Erst viel später merkte ich, dass ich aber auch draußen war. Dass der Betrieb woanders spielt. Dass Leute mit anderer Herkunftsgeschichte deutlich schneller vorankommen. Was ja auch okay ist, aber dennoch bemerkenswert. Was das Verständnis für die Menschen angeht: Ich habe ein Herz für Randgestalten. Und wir Arbeiterkinder erkennen einander innerhalb von Sekunden. Das ist wie mit Straßenhunden, hat mal ein Freund von mir gesagt.

Das Buch ist auch eine Hommage an eine Familie, mit allen ihren Ecken und Kanten. Ungeschönt, aber liebevoll beschreiben Sie ihr Streben nach dem kleinen Glück. Ist die Suche nach Glück in Zeiten von Individualismus und Selbstverwirklichung schwieriger geworden? Und inwiefern prägt die Arbeiterherkunft die Vorstellung davon?

Vielleicht sollte ich mit einer Anekdote antworten: Meine Partnerin kommt auch aus dem Arbeitermilieu und wir haben durchaus ähnliche Erfahrungen mitgebracht. Auch unsere Vorstellungen vom kleinen Glück ähneln einander, wir sind also in der Tat von unserer Herkunft geprägt. Das merkten wir neulich (und wir müssen immer noch darüber lachen), als es kurz vor dem Jahreswechsel bei einem Discounter einen Raclettegrill für unschlagbare 15 Euro zu kaufen gab. Wir brachten völlig aufgeregt unseren Sohn in die Kita und rasten zum ersten Laden – der Grill war schon ausverkauft. Also zur nächsten Filiale und im Stechschritt zu den Sonderposten – da hatten wir ihn. Ich glaube, ich habe meine Partnerin sogar im Laden mit dem Grill in der Hand fotografiert. So komisch es klingt: Eventuell ist das unsere Art der Selbstverwirklichung, die sich manchmal eben überhaupt nicht von dem unterscheidet, was unsere Eltern gelebt haben. Das ist schrullig und das ist schön.

Fragen von Elsa Antolín / Luchterhand Literaturverlag
© Luchterhand Literaturverlag. Die Nutzung des Interviews oder von Auszügen daraus ist nach Rücksprache mit der Presseabteilung möglich

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