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Rezension zu
Herbst

Brexit-Herbst

Von: LiteraturReich
31.01.2020

Überall wird der gerade auf Deutsch erschienene Roman „Herbst“ von Ali Smith als der „erste Brexit-Roman“ gefeiert. Und tatsächlich begann die schottische Autorin 2016 kurz vor dem Referendum mit der Niederschrift und in der Absicht, einen ganz zeitnahen Text zu verfassen. „Autumn“ erschien dann auch bereits im selben Jahr und platzierte sich 2017 auf der Shortlist zum Man Booker Prize. Ein wenig von dieser Aktualität und Dringlichkeit ging durch die drei Jahre, die die Übersetzung ins Deutsche nun dauerte, verloren. Das schadet aber nicht sehr, denn die Gedanken zu den politischen Veränderungen in Großbritannien, die Hinwendung zu mehr Egoismus, sozialer Kälte, zum Errichten von Grenzen jedweder Art und zum raueren Klima, das seitdem in der britischen Gesellschaft herrscht, bilden nur einen Aspekt des komplexen Romans. Auch wenn dieser sehr stark und leidenschaftlich ausgeführt wird. „Ich habe die Nachrichten satt. Ich habe es satt, wie manches künstlich zu etwas Spektakulärem aufgebläht wird, das es nicht ist, und anderes, wirklich empörende Dinge, grob vereinfacht wird. Ich habe die Giftigkeit satt, den Zorn, die Niedertracht, den Egoismus. Und am meisten habe ich satt, dass wir nichts unternehmen, damit das aufhört.“ Geplant und angelegt hat Ali Smith „Herbst“ als den ersten Text eines Jahreszeiten-Quartetts und im Original sind bereits „Winter“ und „Spring“ erschienen, „Summer“ für 2020 angekündigt. „Herbst“ ist, wenig verwunderlich, ein Roman des Abschieds, der leisen Trauer, des Alters, aber auch einer der Verwandlungen – Ovids „Metamorphosen“ spielen nicht zufällig eine Rolle – und der Hoffnung. Er ist bei aller Zugänglichkeit ein hoch kunstvoller, vielgestaltiger und auch experimenteller Text. Es beginnt mit einer jener traumartigen Episoden, die immer wieder auftauchen. Hier wird ein „alter, alter Mann“ an ein Ufer angespült, begegnet einem Reigen tanzender Mädchen, während tote Menschen am Strand liegen und Urlauber sich sonnen, fühlt neue Lebenskraft in sich aufsteigen und verwandelt sich schließlich in einen Baum. Diese Traumsequenzen erweisen sich bald als Bewusstseinsströme eines sterbenden, 101 Jahre alten Mannes, Daniel Gluck. An seinem Krankenhausbett sitzt viele Stunden eine junge Frau, liest, liest ihm vor, spricht mit dem Bewusstlosen, in einem tiefen, langen Schlaf Gefangenen. Als zehnjähriges Mädchen wurde Elisabeth Demand die Nachbarin von Daniel Gluck. Die alleinerziehende und nicht sehr fürsorgliche Mutter hatte wenig Zeit und Geduld mit ihrer Tochter. Damals gab ihr der bereits hochbetagte, aber noch erstaunlich rege Nachbar Halt und führte sie ins eigenständige Denken und in die Kunst und Literatur ein. „Was liest du gerade?“ war eine ihrer Begrüßungsfloskeln. Und auch „Herbst“ ist voller Referenzen an Bücher, Autoren, bildende Künstler. Ovids „Metamorphosen“ liest Elisabeth am Krankenbett. Und wie die Natur sich im Herbst wandelt, macht auch Daniel in seinen Träumen oft eine Verwandlung durch. Meist allerdings in eine entgegengesetzte Richtung, hin zu vergangener Jugend. So wird er beispielsweise zu einem ergrünenden Baum, in den er sich eingeschlossen fühlt. Was wieder auf eine andere Bezugsgröße hinweist, auf Shakespeare. Der Luftgeist und Gestaltwandler Ariel ist in dessen Stück „Der Sturm“ ebenfalls zu Beginn in einem Baum eingeschlossen, aus dem ihn der Zauberer Prospero befreit. Eines der dem „Herbst“ von Ali Smith vorangestellten Mottos stammt aus „Der Sturm“. Der Sturm als Herbstmotiv. Und William Shakespeares Märchen- und Zauberdramen als Inspiration für die Traumsequenzen im Roman. Ein drittes literarisches Werk, auf das Smith Bezug nimmt, ist Charles Dickens „Eine Geschichte aus zwei Städten“. Von diesem während der französischen Revolution in Paris und London spielenden Roman kann man einen Brückenschlag zu den „revolutionären“ Veränderungen in Großbritannien herstellen, aus ihm stammt auch der (leicht veränderte) Anfangssatz: „Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten.“ Mit der kritischen Stellungnahme zum Brexit und den verschiedenen literarischen Referenzen ist es aber noch nicht genug. Durch einen persönlichen Bezug – Daniel, der Liedtexter war einst in sie verliebt – erzählt Ali Smith noch von der britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty und ihrem traurigen Schicksal. Gleichzeitig thematisiert sie über eines der Werke Botys den Skandal um Christine Keeler. Diese war ein britisches Model und unterhielt 1963 gleichzeitig eine Affäre mit dem britischen Kriegsminister John Profumo und dem sowjetischen Marineattaché Jewgeni Iwanow, was schließlich zum Sturz der britischen Regierung führte. Reichlich Stoff für einen nicht allzu umfangreichen Roman. Dazu kommt der Wechsel der Zeitebenen zwischen Erzählgegenwart und Erinnerungen und dem nebligen inneren Erleben Daniels. Es erstaunt und zeugt von großer Könnerschaft, dass sich das Ganze so problemlos und mit Genuss lesen lässt. Letztlich entscheidet die Leserin, welchen Fährten sie folgen mag. Brexit-Roman oder Meta-Erzählung? Politisches Statement gegen das Errichten neuer Grenzen und für die Vielgestaltigkeit des Lebens oder zarte, poetische Erzählung über das Abschiednehmen von einem geliebten Menschen? Oder eben alles zusammen. Ali Smiths Erzählen ist sowohl politisch als auch hochpoetisch. Sie liebt Sprache und Wortspiele, und das ist auch in der Übersetzung von Silvia Morawetz noch deutlich zu spüren. „Sprache ist wie Mohnblumen. Sie nimmt etwas und wühlt die Erde drum herum auf, und schon kommen schlafende Wörter zum Vorschein und werden, leuchtend rot und frisch, überallhin verweht.“ Das Ende ist geradezu hoffnungsvoll. Aber da schrieb man ja auch noch das Jahr 2016. Vieles sieht heute düsterer aus als damals. Mit großer Spannung darf man die Folgebände erwarten, die ja eigentlich ins Lichte führen müssten, in den Frühling, den Sommer. „Die Bäume zeigen ihre Wuchsformen her. Ein feiner Brandgeruch liegt in der Luft. Alle Seelen streunen und marodieren. Aber es gibt Rosen, noch gibt es Rosen. Trotz Feuchte und Kälte ist an einem Busch, der bereits abgeblüht aussieht, eine Rose weit geöffnet, noch. Sieh dir die Farbe an!“

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