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Rezension zu
Aufruhr der Meerestiere

Menschen und Rippenquallen

Von: Myriade
26.06.2023

Selten passiert es mir, dass ich so mühelos gleich nach den ersten Sätzen in einen Text hineingleite und dort sofort völlig zuhause bin. „Zuerst überlegten wir, wie immer, was wir tun würden, wenn wir hier vergessen werden. Die Bergstation war im abendlichen Bebel verschwunden, unter uns der gleiche dicke weiße Himmel wie vor uns.Der Sessellift stand still und schaukelte wild auf und ab. Ganz schwindelig wurde uns davon, aber wir sagten nichts. In unseren Fäustlingen führten die klammen Finger heimliche Tänze auf. Da war diese Geschichte von dem Kind, das den kalten Bügel abschleckte und dem die festgeklebte Zunge dann abgeschnitten werden musste. Und da war die Geschichte von Hermann Maier, der bei den Winterspielen in Nagano 1998 drei Tage nach seinem schweren Sturz in der Abfahrt Gold im super-G gewann. Aber lieber noch ließen wir in Gedanken erst die Ski, dann die Skischuhe fallen. knoteten unsere Anoraks und Hosen aneinander und hofften auf einen weichen Himmel. „ S 7, der Beginn des Buchs Marie Gamillscheg erzählt von wenigen Tagen im Leben ihrer Protagonistin Luise, einer Zoologin, die internationale Bekanntheit in der Forschung rund um Rippenquallen erreicht hat. An diesen kurzen Zeitstrang hängt die Autorin Erinnerungen, die teilweise sehr weit zurück gehen und die die Person Luise herausarbeiten. Luise reflektiert und kämpft mit sich. Mit ihrer Neurodermitis und ihrer Version von Magersucht, mit ihren komplizierten und wenig befriedigenden Männerbeziehungen und den ebenso schwierigen Beziehungen zu Vater und Bruder. Der Text hat bei mir etliche Knöpfe gedrückt und ich habe daher langsam gelesen. Luises Forschungsobjekt, die Rippenqualle fasziniert mich, nicht nur weil sie ein sehr schöner Anblick ist und leuchtet, sondern auch weil sie im Tierreich eine sehr interessante Stellung einnimmt: mit höchster Wahrscheinlichkeit ist sie jenes rezent lebende Tier, das vom Menschen am weitesten entfernt ist, weil es sich als erstes vom Hauptstamm der Evolution getrennt hat. Die Evolution hat bei Meerestieren einen bislang unbekannten Typ von Nervensystem hervorgebracht. Die Neurone der Rippenquallen sind nicht über Synapsen verbunden, sondern zu einer netzartigen Riesenzelle verschmolzen. Das entdeckte ein Team um Pawel Burkhardt von der Universität Bergen (…) Die im Körper der Rippenquallen verteilten Zellen des Nervennetzes haben Fortsätze, deren Enden direkt mit denen anderer Nervenzellen verschmolzen sind (…) Dass das Nervensystem der Rippenquallen so anders aufgebaut ist als bei allen anderen Tieren, wirft bisherige Annahmen über ihre evolutionäre Stellung über den Haufen. So gruppierte man sie gemeinsam mit Nesseltieren stets zu den Hohltieren. (…) Die Erkenntnisse lassen jedoch vermuten, dass diese Ähnlichkeiten rein oberflächlich sind. (…) Die Unterschiede legen nahe, dass Rippenquallen eine Schwestergruppe aller anderen Tiere sind. Fachleute debattieren seit Jahren darüber, welche Gruppe den Status als unsere entferntesten tierischen Verwandten hat – das Nervensystem spielt dabei eine große Rolle. Alternativ könnten sich Schwämme als Erstes abgetrennt haben, sie besitzen nämlich gar kein Nervensystem. Möglich ist aber auch, dass sie frühe Ansätze wieder verloren haben. Das einzigartige Nervennetz der Rippenquallen stützt diese Hypothese. Demnach entstand das Nervensystem der Tiere zweimal in der Evolution. Quelle: Science 10.1126/science.ade564, 2023 Für die Autorin, die ja keine Biologin ist, dient die Rippenqualle mit ihren ganz besonderen Eigenschaften wohl eher als Pendant zu Luise, die sich selbst ja auch als sehr anders erlebt. Als ausgewiesene Expertin bekommt sie vom Tiergarten Graz ein Angebot in dem dort entstehenden Zentrum für Rippenquallenforschung zu arbeiten. Der Direktor dieses Zoos ist Rainer Schilling, Star einer Fernsehtiersendung, die Luise als Kind mit großer Begeisterung verfolgt hat. Graz ist obendrein ihre Heimatstadt, in der ihr Vater lebt. Während ihres kurzen Aufenthalts dort lebt sie in der Wohnung ihres abwesenden Vaters und sieht sich auch mit ihrer Vaterfigur Schilling konfrontiert. Die Erzählstimme kommt Luise sehr nahe, manchmal hat man den Eindruck, dass Luise selbst übernimmt, im letzten Zeil des Romans hatte ich wiederum den Eindruck, dass Luise eine Zeitlang völlig versinkt und dann schemenhaft wieder auftaucht. Dieser letzte Teil ist ein Ausbruch aus der bis dahin noch vorhandenen Erzählstruktur, wunderbar bildhaft, aber strukturell verschwommen. Als Text hat mir dieser Teil sehr gefallen, aber als Ende dieses Romans fand ich ihn doch unbefriedigend, denn er bietet nicht nur kein Ende der Geschichte sondern auch keinerlei Perspektive weder für Luise noch für die Leserin. Einer von vielen sehr gelungenen Textabschnitten ist die detailreiche, entmystifizierende Beschreibung ihrer Vaterfigur Schilling. Man kann vermuten, dass Luise nach diesem Gespräch mit ihm , bei dem es um den Tod einer Tierpflegerin geht, beschließt, sein Angebot nicht anzunehmen. Aber ganz sicher bin ich doch nicht. Gleich nach diesem Gespräch gleitet der Roman in surreale Gefilde, die mir sprachlich durchaus gefallen, mich inhaltlich aber etwas frustriert zurücklassen Was mir an diesem Roman auch sehr gut gefallen hat, ist die Leichtigkeit der Erzählung. Luises Leben scheint in vielen Bereichen eine durchgehende Tragödie zu sein, aber die Sprache bleibt immer leicht, sogar humorvoll. Marie Gamillscheg beherrscht die Kunst des eleganten Balancierens, das die Zuschauer aber nicht vergessen lässt, wie tief der Abgrund unter ihr ist. Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen mit der kleinen Ausnahme, dass es meinen Wunsch nach einer Abrundung der „Geschichte“ oder doch zumindest einigen Andeutungen, wie es mit der Protagonistin weitergehen könnte, nicht erfüllt. Kann ich das aber dem Buch vorwerfen?

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