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Rezension zu
Montana

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Abgründe

Von: Constanze Matthes
20.05.2016

Montana könnte mit Blick auf die geringe Bevölkerungsdichte als das Mecklenburg-Vorpommern der Vereinigten Staaten gelten. Auf einer Fläche nahezu so groß wie Deutschland leben nicht mehr als eine Million Menschen. In dem Bundesstaat, im Norden der USA und an der Grenze zu Kanada gelegen, gibt es also sehr viel Platz und sehr viel Ruhe. Womöglich allzu viel davon. Die Wege zwischen den Menschen sind weit, jeder kocht unbeobachtet vom Rest der Welt sein eigenes Süppchen. Sozialarbeiter Pete Snow hat alle Hände voll zu tun, Kinder aus Problemfamilien in Sicherheit zu bringen und aus der Spirale aus Drogen, Missbrauch und Gewalt zu holen. Der Roman „Montana“ ist das Debüt des Amerikaners Smith Henderson. Und sein Erstling ist keine leichte Kost weil voll an menschlichen Abgründen und Tragödien. Doch selbst das Leben und der Alltag des Mitarbeiters des sozialen Familiendienstes im Amt für Jugendschutz in der Kleinstadt Tenmile ist alles andere als harmonisch. Die Ehe mit Beth ist gescheitert, seine Frau und die gemeinsame Tochter Rachel haben Montana in Richtung Texas verlassen. Wenig später hat sich das junge Mädchen aus dem Staub gemacht und Beth, dessen Leben durch Alkohol und zwielichtige Freunde geprägt wird, legt wenig Initiative an den Tag, um die Tochter zu finden. Und auch Snows Bruder Luke, eine verkrachte Existenz, ist geflohen, da ihm eine Gefängnisstrafe droht. Snow ist hin und hergerissen zwischen seinen Ansprüchen als Vater und seiner Arbeit als Sozialarbeiter, was zudem erschwert wird durch den häufigen Griff zur Flasche. Speziell zwei Fälle fordern ihn besonders heraus: Cecil wächst mit seiner kleinen Schwester Katie an der Seite seiner drogenabhängigen Mutter auf, entwickelt selbst ein gewalttätiges Verhalten. Es kommt zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen Sohn und Mutter, bei denen die kleine Katie Zeuge wird. Die Versuche, den Jugendlichen in Pflegefamilien unterzubringen, scheitern. Als zweites Sorgenkind erweist sich Benjamin, der eines Tages verwahrlost und unterernährt in der Schule der Kleinstadt auftaucht. Ben bringt Snow zu seinem Vater, der mit seinem Sohn fern der Zivilisation in der Wildnis lebt und Fremden, die seinem Revier zu nahe kommen, schnell mit dem Gewehr droht. Jeremiah Pearl ist zu Beginn eine Art Gegenspieler Snows. Während der Sozialarbeiter für eine Behörde arbeitet, lehnt Pearl jede jegliche Beziehung zum Staat ab. Seine Ansichten sind geprägt von Weltuntergangsfantasien und Verfolgungsängsten. Die Evolution sieht er als eine Verschwörung an. Münzen bearbeitet er und bringt sie in Umlauf, um auf das fragile weltweite Geldsystem aufmerksam zu machen. Doch mit den Monaten, jeder Begegnung, jedem Gespräch und der Unterstützung in Form von Lebensmittel und Kleidung, die Snow an einer Stelle ablädt, findet der Sozialarbeiter Zugang zu dem absonderlichen Mann, der in das Visier Polizei und Secret Service gerät. Eine Verfolgung beginnt, in der Snow seine Rolle finden muss zwischen seiner Loyalität gegenüber Sicherheitsbehörden und der Freundschaft sowie dem Vertrauen von Pearl und dessen Sohn. Henderson erweist sich als begnadeter Erzähler, wenn er diesen Szenen zwei weitere Handlungsfäden gegenüberstellt und damit eine unvergleichliche Spannung erzeugt. Denn auch bei Cecil und seiner Familie spitzt sich die Lage zu, währenddessen Snows Tochter nach ihrem Verschwinden durch das Land zieht und in die Prostitution abrutscht. Rachels Geschichte wird vor allem in Form eines Gesprächs nachkonstruiert, das die Haupthandlung begleitet. Wer konkret diesen Dialog führt, wird indes nicht wirklich klar. Der Leser gewinnt den Eindruck, zwei unbekannte Personen sprechen über Rachels Erlebnisse. Zwischen diesen alltäglich erscheinenden und damit umso erschütternd wirkenden Abgründen in den Familien und den Kindern als Opfern mit ihren äußerlichen wie innerlichen Wunden und Narben gibt es zwei rote Fäden beziehungsweise Themen, die für Hoffnung und etwas Licht in diesem dunklen, in einem zutiefst melancholischen Ton getragenen Provinzleben sorgen. Neben all den dramatischen Begebenheiten und Schicksalen erzählt Henderson vor allem von dem Reichtum und der Unverwechselbarkeit der Natur. Schilderungen der einmaligen Berg-Landschaft sowie der Flora und Fauna Montanas nehmen breiten Raum ein. Es ist erstaunlich, wie konkret Tiere und Pflanzen benannt werden. Die Wildnis und Abgeschiedenheit wird am Ende zur Zuflucht, die vor allem durch die Annäherung der einst zerstrittenen Brüder Luke und Pete, gewachsen während der gemeinsamen Suche nach Rachel, ermöglicht wird. Seine Protagonisten stattet Henderson nicht nur mit einem Leben reich an Schicksalsschlägen und Verlusten aus. Er macht sie vor allem wandelbar: Sie erkennen ihre Fehler und ändern ihre Haltung, um schließlich Probleme gemeinsam zu lösen und so menschlicher zu wirken. Toleranz, Verständnis und Hilfsbereitschaft sind wichtige Themen des Romans und setzen einen Kontrapunkt zu Gewalt, Missbrauch und Macht, die Leid und Schmerz verursachen. Der Amerikaner hat seinen Roman zeitlich in die späten 70er Jahre und zu Beginn der 80er Jahre gelegt. Es ist die Ära, in der Jimmy Carter und Ronald Reagan um das Amt des amerikanischen Präsidenten ringen. Blickt man als Leser auf die Biografie des Autors, kommt man schnell in Versuchung, die fiktive Welt des Romans mit den Erfahrungen und Erlebnissen Hendersons zu vergleichen, der in Montana geboren wurde und aufwuchs, später unter anderem als Sozialarbeiter und Gefängniswärter arbeitete. Dass er seinen Weg letztlich zur schreibenden Zunft gefunden hat, ist ein großer Glücksfall. Denn mit seinem Debüt hat er ein großartiges weil spannendes wie ergreifendes Meisterwerk verfasst, dessen Helden und kraftvolle Geschichten unvergessen bleiben. „Montana“ tritt als Roman den Beweis an, dass Menschen in Not noch die Kraft aufbringen können, anderen zu helfen. Eine wichtige Botschaft, die Hoffnung gibt.

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