Von:
Marie B.
aus Berlin
03.11.2022
"Es ist so ein Gefühl, wie nach einem langen Flug aus dem Flieger zu steigen und wieder frische Luft zu atmen. Im Flugzeug war es ok. Man hat genug Luft bekommen, und wenn es sein müsste, könnte man unter den Bedingungen lange überleben. Aber sobald man an der frischen Luft ist, merkt man, dass man so nicht leben möchte."
Diese kleine Metapher, die ein Universitätsprofessor nutzt, um Protagonistin Greta von dem Wunsch nach Veränderung - nacht Transformation - zu beschreiben, steht für alle kleineren und größeren Handlungsstränge des Buches. Denn fast alle Figuren müssen etwas aus der Vergangenheit überwinden, nach vorne schauen und sich weiterentwickeln. Sei es Greta selbst, die nach dem Tod ihrer Mutter keine Konzerte mehr spielen kann, ihr Vater, der ebenfalls mit dem Tod seiner Frau zu kämpfen hat und eine äußerst distanzierte Beziehung zu Greta hat oder die Jugendliche Preeti. Zusammen kommen sie alle auf einem Kreuzfahrtschiff, dass sich durch die wunderbare Natur Alaskas bewegt. Und während die Natur um die Figuren herum immer ruhiger - oder besser beruhigender - wird, finden sie Zeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was wirklich wichtig ist.
Liest man diese Inhaltsangabe, klingt der Roman fast kitschig: Selbstentwicklung, Trauer in der Natur überwinden, Kreuzfahrt. Doch so liest sich Jennifer E. Smiths erstes Buch für Erwachsene nicht. Dank Greta wird die Geschichte weder sentimental noch unangenehm zuckersüß. Den Greta ist tough. Das klassische Familienbild, ein durchschnittliches Leben, Routinen, ja selbst eine Kreuzfahrt sind ihr eigentlich viel zu spießig. Auf dem Schiff ist die unabhängige Frau nur, weil sie ihrem Bruder einen Gefallen tun möchte. Durch Gretas manchmal fast schon egoistischer, aber immer liebenswürdige Art erhält die Handlung kleine Brüche, die dem Kitschfaktor gut tun.
Schön sind auch die vielen Naturbeobachtungen und die Verbindungen zu Alaska. Tatsächlich spielen die Landschaft und der Roman Der Ruf der Wildnis ebenfalls eine große Rolle. Daran erkennt man: Die Autorin hat nicht einfach irgendeinen Handlungsort für die Kreuzfahrt gewählt. Auch das gibt dem Roman einiges an Tiefe.
Insgesamt ist der literarische Anspruch vielleicht nicht besonders hoch, dennoch bitte der Roman neben einer sympathischen Protagonistin, deren Entwicklung man gerne begleitet, eine ganze Menge Wohlfühl-Potential und ist perfekt geeignet, um an dunklen Herbsttagen gedanklich in den Norden zu reisen.