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Rezensionen zu
Unterleuten

Juli Zeh

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Brandenburg, das idyllische Dorf „Unterleuten“. Ein Sammelsurium alteingesessener Bewohner, die die DDR überlebt haben und heute noch genauso leben wir vor 40 Jahren. Auch ein paar Zugezogene gibt es, die Nähe zu Berlin ist ideal, um Stadtleben und Landleben zu verbinden. Was so harmonisch sein könnte, wir durch alte Fehden bestimmt und von älteren Männern, die nicht vergessen können oder wollen und die die tradierten Feindschaften pflegen. Als die Option auf einen Windpark besteht, der die Dorfkasse sanieren könnte, droht die kleine Gemeinschaft zu zerbrechen. Zünglein an der Waage wird eine Neubürgerin, die nicht versteht, in welchen Krieg sie sich begeben hat und dass sie durch ihr Handeln alle ins Unglück stürzen wird. Ein großer Roman, der das Dorfleben glaubwürdig und authentisch einfängt. Die wirtschaftlichen Zwänge, die nur marginal die über Jahrhunderte festgefahrenen Strukturen beeinflussen, sind Anlass und Auslöser für die akute Krise. Der Windpark – ein hochaktuelles Thema und landauf landab Zerreißprobe für viele kleine Gemeinschaften mit sich widersprechenden Erwartungen und Bedürfnissen – kann tauglich das Chaos auslösen. Dabei bleiben die Figuren mit all ihren Eigenarten, Unzulänglichkeiten und ihrem oftmals irrationalen Verhalten jedoch immer im Vordergrund. Sie sind das Zentrum, in ihren Eigenarten individuell und doch repräsentativ für die Menschen, die man überall finden kann. Ein Stück deutsche Geschichte heruntergebrochen auf ein kleines Dorf im nirgendwo und doch symptomatisch für unsere Zeit und beispielhaft für das, was uns bewegt.

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"Unterleuten war ein Instrument, auf dem ein Virtuose jede beliebige Melodie erzeugen konnte." Unterleuten ist in gewisser Weise ein Gesellschaftsroman. Er greift viele Themen der Gegenwart in der für Juli Zeh typischen, präzisen Erzählweise auf. Kaum eine beherrscht ihr Handwerk so gut wie sie. Das macht es einem leicht, ihre Bücher zu lesen, sie sind, wie eine Kritikerin vermerkte: Pageturner. Manchmal aber sind sie mir persönlich auch zu konstruiert, erinnern an amerikanische Schreibratgeber und Diagramme, die den Verlauf einer gelungenen Geschichte verdeutlichen. Es fehlen mir die Abgründe, die Unwägbarkeiten, es fehlt mir die Poesie des Menschseins. Aber obwohl diese Kritik für mich auch bei Unterleuten zutrifft, ist es ein Buch, das ich gerne gelesen habe, vor allem bis zur Mitte habe ich es verschlungen, weil es intelligent ist und sehr gut geschrieben. Jeder Satz führt unvermeidlich zum nächsten, jedes Kapitel dient der Handlung in beinahe perfekter Weise. Als Leserin geht man nicht eine Zeile verloren. Man wird mit sicherer Hand durch die Handlung geführt. Dass diese Handlung in Brandenburg angesiedelt ist, in einem Dorf, das mich an jeder Ecke an das Dorf erinnert, in dem ich meinen Garten habe, macht die Freude an dem Buch noch größer. Persönlicher Bezug ist ja nie verkehrt, wenn man liest, also zumindest bei mir nicht. "Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählen." Unterleuten ist ein Buch über die permanenten Missverständnisse, die es zwischen Menschen gibt. Es zeigt, wie oft genug diese Missverständnisse es sind, die ganze Existenzen formen, unter Umständen gar der Sinnlosigkeit entreißen, ganze Lebenszusammenhänge, alles basiert auf Geschichten, die man sich selbst über andere erzählt, die aber nichts mit der Realität zu tun haben müssen und doch glauben wir sie, als wären sie wahr. Diese Geschichten und das daraus resultierende Verhalten kreiert einen großen Teil der menschlichen Realität. Sie sind wie eine Metaebene, auf der wir alle leben, verstrickt in unsere Missverständnisse über uns selbst und andere, weit entfernt von dem entfernt, was sein könnte, wenn die Menschen nicht beständig ihre innere Leere mit Vermutungen füllen würden. "In den 61 Jahren ihres Lebens und vor allem in den zwei Jahrzehnten seit Püppis Auszug hatte Elena gelernt, dass die wahre Geißel des Menschen Langeweile hieß. Langeweile verdarb den Charakter. Sie weckte die Sehnsucht nach Skandalen und Katastrophen. Friedliche Menschen verwandelten sich in Schandmäuler, die anderen Böses wünschten, nur damit sie etwas zu besprechen hatten. Im Kampf gegen die Langeweile entschied sich, ob man als Teufel oder als Engel durchs Leben ging. Weil Elena dies verstand, hatte sie sich stets verboten, schlecht über Nachbarn zu reden, auch wenn es bedeutete, dass die Leute sie für hochnäsig hielten. Wenn man die Gerüchteküche mied, gab es an Gartenzäunen, Straßenecken oder Doppelkopftischen wenig zu verhandeln." Menschen erzählen sich in ihren Köpfen und einander Geschichten über ihre Nachbarn, ihre Ehepartner, ihre Freunde, sogar über ihre Kinder und diese Geschichten werden zu Realitäten, weil man diesen Geschichten eher glaubt als nichts über andere zu wissen, ihnen offen und vorurteilslos entgegen zu treten. Dass Fremde sich gegenseitig falsch einschätzen, mag noch klar sein. Aber in Unterleuten erzählt Juli Zeh, wie sehr diese Interpretation des anderen, in die Irre geführt, auch in engsten Beziehungen durchaus den Ausschlag geben kann. Menschen stehen einander nahe und wissen nichts voneinander. Sie sind einander Projektionen der eigenen Befürchtungen und Befindlichkeiten. Dabei gehen sie aber davon aus, alles voneinander zu wissen, und auf dieser Annahme bauen sie ihr Leben, ihr gesamtes Verhalten auf. Unsere Leben basieren zu großen Teilen auf Vorurteilen. Da die meisten Menschen im Kern verletzt und unsicher sind und sich nach Anerkennung und Liebe sehnen, bestehen viele dieser Geschichten aus Unterstellungen von Übervorteilung, Betrug und Gemeinheit, natürlich auch aus Selbstgerechtigkeit. Wer sieht sich nicht gerne als Opfer und bezieht daraus entscheidende Teile seiner Identität? In Unterleuten wimmelt es von Menschen, die sich von anderen mies behandelt fühlen und dafür nach Rache streben. Kron, der Kommunist, zündete Gombrowskis Heim an, als dieser ein Teenager war, weil die Eltern die Großgrundbesitzer waren, der Sozialismus begann, Kron glaubte, das Eigentum der Kapitalisten vernichten zu dürfen, weil eine neue Ordnung aufzog. Gombrowski, der nach der Wende die alte LPG und damit Arbeitsplätze fürs Dorf retten konnte, indem er sich sie, und somit den alten Familienbesitz, wieder aneignete, weshalb sich Kron als sein Opfer versteht und soweit geht, Gombrowski des Mordes zu bezichtigen. Zu Recht? Unterleuten ist beinahe auch ein Krimi. Der Tote wurde doch von einem Baum erschlagen, in einem Unwetter. Und ist Hilde, die Frau des Toten, wirklich Jahrzehntelang die Geliebte von Gombrowski gewesen? Ist ihre Tochter Betty, die bei Gombrowski arbeitet, auch seine Tochter? Unterleuten ist ein Gesellschaftsroman, ein großer Wurf, geradlinig und schnörkellos erzählt. Kapitel für Kapitel werden wir durch dieses Dorf und seine Verstrickungen geführt und dieses Dorf ist ein Abbild der ganzen Welt. Mit der Sprache muss man sich nicht lange aufhalten. Sie ist in diesem Buch kein Selbstzweck, sondern exakt konstruiertes Fahrzeug zum Transport einer sehr präzise durchdachten Geschichte, eines Plots. Eine Geschichte über Beziehungen im Hier und Heute vor dem Hintergrund von Ost und West und alten sowie neuen Verstrickungen am Beispiel eines brandenburgischen Dorfes, in dem ein Windpark errichtet werden soll. Wer Brandenburg kennt, seine Windräder vor Landschaft, der weiß, wie nah Juli Zeh die Gegenwart ausgelotet hat. Wer Juli Zeh und ihre Klugheit, sowie ihr gesellschaftliches Engagement kennt, der weiß auch, wie wahr all dies sein könnte. Erfunden und doch wahr. Das Personal besteht aus alteingesessenen Ossis und neu dazu gezogenen Wessis. Die Ossis teilen sich in ehemals regimetreu und regimekritisch auf, so dass ohne die leiseste Ahnung der Wessis die jahrzehntealten Konflikte unterschwellig mit großer Heftigkeit schwelen. Die Zugezogenen, die diese Konflikte gar nicht verstehen können, die sowieso in Unterleuten sind, weil sie in irgendeiner Form das Paradies und absolute Ruhe jenseits des Leistungsdrucks der Stadt für sich suchen, teilen sich in Träumer und in eher kalkulierende Realisten, die in eben diesem Paradies verwirklichen wollen, was in der Stadt nicht möglich ist. Schließlich gibt es noch Meiler, den Millionär aus Ingolstadt, der eher zufällig bei einer Versteigerung ein großes Stück Land bei Unterleuten erworben hat. Er hat keine Beziehung zum Ort und doch gehört ihm dort so einiges, welches er eventuell nutzen kann, um seinen drogenabhängigen Sohn in die Familie zurück zu holen. Die Personen werden, das ist ein geschickter Erzählkniff, sowohl aus der eigenen Perspektive geschildert, als auch mit den Augen der anderen, so dass man ständig die Sichtweise der anderen auf eine Person und ihre Handlungen erfährt, und auch die wirklichen Motive und Gedanken. Dabei ist keine der Personen so sympathisch, dass man sich als Leser jemals ganz mit ihr identifizieren würde. Man muss sagen, dass Juli Zeh ihre Charaktere teilweise auch ein wenig vorführt. Keine kommt dabei so unsympathisch rüber, dass man mit Bestimmtheit sagen würde: so ein Schwein. Naja, vielleicht Gombrowski, der jahrelang Frau und Tochter verprügelt hat, der kommt dem schon sehr nahe, und doch schafft Zeh es, auch ihn aus so vielen Perspektiven zu zeigen, dass er einem eher leid tut. Was ich in einem solchen Zusammenhang auch ein wenig fatal fand. "Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen." Nach diesem Motto ist der Roman im Grunde aufgebaut. Alle Protagonisten sind auch Erzähler, beziehungsweise immer abwechselnd, Kapitel für Kapitel, berichtet ein auktorialer Erzähler immer wieder mit einem anderen der Protagonisten im Zentrum. So wird die Geschichte wie ein Puzzlestein zusammen gesetzt. Es entstehen Spannungsmomente, die einen weiterziehen. Als ein Windpark auf dem Gebiet geplant wird, das zum Teil Meiler gehört, zu einem anderen Gombrowski, Kron und einer Wessipferdefrau namens Linda Franzen, formieren sich die Pro- und Contragruppen schnell, und die Konflikte treten in all ihrer Heftigkeit zutage. Denn ein Windpark kann nur errichtet werden, wenn das Grundstück groß genug ist. Einer muss daher verkaufen. Der Käufer wird reich werden. Konflikte, die zu einem großen Teil auf den falschen Annahmen der Menschen übereinander basieren, fressen sich immer brutaler ins Sozialgefüge des Dorfes hinein. So hat Unterleuten fast das Zeug zu einem groß angelegten Lustspiel, mit den ganzen Irrtümern und Verwirrungen, wenn nicht auch eine große Tragik und Ernsthaftigkeit all dem beiwohnen würde. Das Buch zeigt die Komplexität, aber auch die Einfachheit, ja Trivialität menschlicher Motive zu handeln, auch und gerade, wenn es darum geht, groß zu handeln. Eitelkeit, Beleidigtsein, Selbstgerechtigkeit formieren in diesem Roman einen nicht unerheblichen Teil der menschlichen Realität, und wer wagt es, dieser Sicht ernsthaft zu widersprechen? Dennoch: Vielleicht ist dies der für mich größte Kritikpunkt an der Geschichte: dass Juli Zeh die Handlungsmotive relativ konsequent und fast ausnahmslos alle in diese Richtung schreibt. Das macht beim Lesen eine lange Weile Spaß, weil es unterhaltsam ist, aber ab der Hälfte etwa begann es, mich ein wenig zu nerven. Denn Menschen sind, bei aller Liebe, nicht so eindimensional. Sie sind nicht ständig so berechnend. Deshalb ist für mich der große Wurf, den so viele Rezensenten postulieren, nicht wirklich ganz gelungen. Unterleuten spiegelt uns ein bestimmtes Bild von Menschen zurück, welches relativ negativ, auch ein bisschen lächerlich und wie gesagt, sehr eindimensional bleibt. Es fehlen die Liebe, die Größe, die Tiefe des Menschen. Es stimmt, ich habe, trotz allem, was in den letzten Monaten geschieht, immer noch die rosarote Brille auf und glaube an etwas Großes in den Menschen, in jedem Menschen. Es ist mir in Juli Zehs Roman nicht begegnet. Dort gibt es Mittelmaß und sehr viel Mickrigkeit. Das hat mich irgendwann frustriert. Das Buch erinnerte mich zu weiten Teilen mehr an eine Karikatur als an einen wirklich großen Roman. Die Charakterisierungen der Protagonisten schrammen immer wieder nur sehr knapp am Klischee vorbei. Manchmal landen sie auch mitten darin und das Ende ist sowieso Klischee, wie in der Schreibschule vorgegeben, war es für mich der schwächste Teil des ganzen Buches. Alle Enden noch schnell verknoten, damit keines im Leeren baumelt. So gerne ich, bei aller Kritik, Unterleuten gelesen habe, weil es spannend, unterhaltsam und leicht zu lesen ist, weil es sich wunderbar als Ferien- und Urlaubslektüre zum Wegschlürfen eignet. Es kommt nicht an Juli Zehs Meisterwerke Spieltrieb und Adler und Engel heran und es erfüllt nicht die Kriterien, die ich an einen großen Wurf lege. Ein großer Dank dem Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar. (c) Susanne Becker

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Glaubt man Rainald Grebes Brandenburghymne, die auch Eingang in Juli Zehs Gesellschaftsroman Unterleuten gefunden hat, ist Brandenburg ein Ort der Öde, der Langeweile – und der unberührten Natur. Das liegt vor allem daran, dass es wenige Einwohner hat. Letzteres kann auch von Unterleuten gesagt werden, einem fiktiven Ort mit einer Handvoll Einwohnern, mehrheitlich alteingesessenen. Schon zu DDR-Zeiten schwelten dort die Konflikte zwischen treuen Kommunisten und Regimegegnern bzw. früheren Großgrundbesitzern. Nach der Wende wurden die Karten zwar im Grunde neu gemischt – und doch blieb alles beim Alten. Im konkreten Fall Unterleuten treten gegeneinander an: Kron, Kommunist und LPG-Angestellter, gegen Gombrowski, Sohn eines Großgrundbesitzers, dessen Boden verstaatlicht wurde. Nach dem Studium der Landwirtschaft war er in die LPG eingetreten und in kürzester Zeit zum Vorsitzenden avanciert, der die LPG zurück in Gewinnzone brachte. Nach der Wende hatte er auf Anraten eines Umwandlungsberaters aus der LPG die Ökologica GmbH gemacht, um möglichst viele Arbeitsplätze zu behalten. Während Kron, der keinerlei positiven Beitrag zum großen Ganzen leistet, es versteht, einige Dorfbewohner hinter sich zu scharen und gegen Gombrowski aufzuhetzen, bleibt Gombrowski, der sich für die Gemeinschaft aufreibt, erstaunlich unbeliebt. Schon dieser organisch gewachsene Mikrokosmos ist kein Ort der Harmonie und des Friedens. Das gesellschaftliche Gleichgewicht steht zu jedem Zeitpunkt auf Messers Schneide. Doch dann kommen auch noch Zugereiste aus dem Westen hinzu und bringen es völlig aus dem Lot. Da gibt es den Weltverbesserer Gerhard Fließ, einen gescheiterten Akademiker, der mit wesentlich jüngerer Frau und Baby nach Unterleuten gezogen ist, um dort die Leitung des örtlichen Vogelschutzbundes zu übernehmen, und die Pferdetrainerin Linda Franzen, die nach Unterleuten kam, um dort eine Pferdezucht aufzubauen. Man könnte meinen, die Gemeinsamkeit, als Wessis in ein kleines ostdeutsches Dorf zugezogen zu sein, würde verbinden, doch ihre Interessen lassen sich nicht vereinen, denn Fließ will Franzen eine Weide verweigern, um seine seltene Vogelart besser schützen zu können. Auch hier also keine Harmonie. In diese explosive Mischung wird noch ein Ingolstädter Investor geworfen, der bei einer Versteigerung spaßeshalber in Unterleuten und Umgebung große Flächen erworben hat. Doch es geht erst so richtig rund, als am Rande von Unterleuten ein Windpark gebaut werden soll, damit das Dorf, dem es ständig an Geld fehlt, von der Gewerbesteuer profitieren kann. Juli Zeh hat in ihrem Roman eine wunderbare Versuchsanordnung geschaffen und dann beobachtet, wie sich die einzelnen Figuren in dieser Konstellation entwickeln, nicht nur im Verhältnis zueinander, sondern auch zu ihrem jeweiligen Partner oder anderen Familienmitgliedern. Es gibt keine eindeutige Hauptfigur, sondern der Leser erfährt sowohl die Vorgeschichte als auch den Fortgang des aktuellen Geschehens aus den verschiedenen Perspektiven der wichtigsten Figuren. Entsprechend kann er sich aussuchen, mit welcher Figur er sich am ehesten identifiziert oder ob er einfach nur als neutraler Beobachter dem bunten Treiben zuschauen möchte. In Unterleuten treffen zwei Welten aufeinander: die des 20. und des 21. Jahrhunderts. War im letzten Jahrhundert im Großen und Ganzen das Leben wenig komplex und vorhersehbar und die Identitäten so gut wie vorgegeben und recht rigide, so zeichnet sich das 21. Jahrhundert durch fast unbegrenzte Wahlmöglichkeiten aus, was für viele Menschen zur Folge hat, dass sie sich nicht entscheiden können und sich nirgends zu Hause fühlen. Wie wirkt sich diese Konfrontation nun im Roman aus? Katastrophal. Von der anfänglichen – wenngleich trügerischen – ländlichen Idylle bleibt am Schluss nur wenig übrig. Wer letzten Endes in diesem Roman zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern gehört, ist allerdings überraschend. Allein das macht diesen Roman schon extrem lesenswert. Als kleines Extra hat Juli Zeh für die Spielernaturen unter ihren Lesern noch einige Webseiten in den Roman eingebaut, die sie auch tatsächlich liebevoll hat einrichten lassen. Ein unterhaltsames Klickerlebnis.

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heiliges Ego

Von: der Michi

04.07.2016

In der Regel ist der Gesellschaftsroman ein klassisches Genre, zu dem man in Schule oder Studium aufgrund seiner Sperrigkeit erst genötigt werden muss. Zeh gelingt es, eben diese Nische auf elegante Art für immer noch relevant zu erklären. Ihre Unterleutner stellen eine ebenso realistische wie dezent kritisch betrachtete Auswahl verschiedenster Typen dar, die ihren Begierden nach und nach erliegen. Der Streit um die Windräder, der schon manches real existierende Dorf entzweit haben dürfte, ist letztendlich nur der Auslöser für das, was bei jedem einzelnen längst unter der Oberfläche brodelt. Unterdrückte Konflikte brechen urplötzlich wieder hervor, zur Tradition gewordene Feindschaften werden neu belebt. Die redenden Namen von Orten und Gegenden sprechen für sich. In Unterleuten ist man nun einmal wohl oder übel "unter Leuten". Wer im benachbarten "Groß Väter" lebt, kann man sich auch denken und die beinahe ausgestorbenen "Kampfläufer" sind aus gutem Grund nur in diesem Landstrich zu finden. Jedes Kapitel widmet sich abwechselnd einem der Dorfbewohner, den der Leser darin so gut kennen lernt, dass er seine Motive gelegentlich fast nachvollziehen will. Wenig später wendet man sich aber beschämt von seiner Lieblingsfigur ab. Diese mit scharfem Blick porträtierten Persönlichkeiten sind das eigentliche Highlight in Unterleuten. Das Geschehen ist punktuell durchaus spannend, kommt sogar (fast) ohne Mord und Totschlag aus, die Unberechenbarkeit der Beteiligten macht den Roman aber erst richtig packend. Eindeutige Sympathieträger sucht man vergeblich, man stellt vielmehr bald fest, dass auch Altkommunisten, Kapitalisten, Naturschützer, linksliberale Bildungseliten, Konservative, Wendeverlierer, Karierrefrauen, Politiker, Unternehmer, Hipster, Streber und schräge Randgestalten unter den richtigen Umständen zum Schlimmsten fähig sind. Ideologie und Idealismus sind hier in der Regel nur Vorwände für das Erreichen der eigenen Ziele. Anhand dieser exemplarischen Mini-Gesellschaft wird ganz nebenbei der individuelle Egoismus als eigentliche Triebkraft und zentrales Übel der Jetztzeit entlarvt. Fazit: Ein großer Roman, eine kritische Gesellschaftsanalyse, eine romantikbefreite Hommage an Land und Leute und vieles mehr. Juli Zeh hat es spätestens jetzt geschafft, mit vollem Recht in einem Atemzug mit Autoren wie Dave Eggers oder Uwe Tellkamp genannt zu werden. Noch dazu ist ihre gleichzeitg klare und doch poetische literarische Sprache ein Genuss und wiegt sogar einige wenige Flauten in der Handlung wieder auf. Wer Literatur nicht nur zur Gedankenberieselung nutzt, für den ist "Unterleuten" Pflichtlektüre. Das Buch ist übrigens mehr, als man zwischen den Buchdeckeln findet. Einrichtungen wie der "Märkische Landmann" und die Vogelschutzwarte Unterleuten haben eigene Internetauftritte, einzelne Figuren betreiben eigene Facebookprofile, ein im Buch erwähntes anderes Buch ist tatsächlich erschienen. Deutlicher kann man den Bezug zur realen Welt gar nicht mehr machen. Seitenzahl: 640 Format: 14,9 x 22,6 cm, gebunden Verlag: Luchterhand

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Juli Zeh Unter Leuten (Luchterhand) „Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf Unterleuten irgendwo in Brandenburg. Als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist … Mit Unterleuten hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen, und am Ende trotzdem Schreckliches passiert?“ (Luchterhand) In der Tat ist es ein „großer Gesellschaftsroman“, den die vielfach ausgezeichnete Autorin hier vorlegt. Weniger der Umfang von 634 Seiten, als vielmehr das breite Spektrum menschlicher (und unmenschlicher) Befindlichkeiten und deren bedrückende Entwicklung macht die literarische und psychologische Größe des Werkes aus. Die Gesellschaft des brandenburgischen Kaffs Unterleuten präsentiert sich in facettenreich ausgearbeiteten Charakteren – das gelingt der Autorin so sorgfältig und anschaulich, dass man sich eigentlich mit keinem von ihnen identifizieren möchte - deren Handeln beobachtet, beschrieben und analysiert wird. Das ist eigentlich alles. Jedes Kapitel ist aus der Sicht eines anderen Protagonisten erzählt, so dass dem Leser nach und nach verschiedene Sichtweisen und Wertungen der fortschreitenden Handlung präsentiert werden. Das ist an sich reizvoll und abwechslungsreich, die Vielzahl der Charaktere erschwert allerdings mitunter die Orientierung. „Inzwischen kann ich behaupten, Unterleuten recht gut zu kennen, was nicht bedeutet, dass ich etwas verstanden habe“ resümiert die (fiktive) Erzählerin des Epilogs (S. 628). Diese Erkenntnis wird der eine oder andere Leser teilen. Dass der Roman stellenweise echte Pageturner-Qualitäten aufweist, liegt eingangs an der Einführung der sehr unterschiedlichen Figuren, die dem Leser von Anfang an ein leichtes Unwohlsein verursacht. Gegen Ende nimmt die Handlung noch einmal deutlich Fahrt auf Richtung Showdown, den manch ein Unterleuter Bürger nicht überlebt. Dazwischen gibt es Längen im Mittelteil, die der stagnierenden Handlung bei leicht verworrener Figurenführung anzulasten sind – auch eine Kindesentführung hilft hier nicht wirklich weiter. Im Blick auf Stil und Sprache ist „Unterleuten“ allerdings der pure Genuss. Zwischen zarter Ironie und bitterem Sarkasmus steuert Juli Zeh das Dorf mit seinen Insassen dem vorhersehbaren Kollaps entgegen. Zwischendurch hält eher die sprachliche Ausdruckskraft als die Handlung den Leser am Ball. Manche Passage liest man gleich noch mal – weil es so schön ist. Über die Buchdeckel hinaus haben Verlag und Autorin keine Kosten und Mühen gescheut, die Unterleuten-Gesellschaft auch in der pseudorealen social-media-Welt zu verorten: Der fiktive Gasthof des fiktiven Dorfes veröffentlicht seine Speisekarte online („Fischeintopf wieder erhältlich“), einige Romancharaktere betreiben facebook-Profile und auf der Website des fiktiven Vogelschutzbundes (Motto „Bei uns piepts!“) kann man durchaus reale Shirts bestellen… Größter Kunstgriff ist dabei wohl die reale Veröffentlichung des im Roman viel zitierten „Erfolgs-Ratgebers von Manfred Gortz“ bereits ein Jahr vor Erscheinen des Romans selbst. Selbst die FAZ müht sich, der Autorin im Interview Aussagen über die Existenz des Manfred Gortz und eine potentielle Verbindung zu entlocken – vergeblich. Wer den Roman mag, hat sicher auch Spaß an diesen Meta-Spielereien. Nötig wäre das nicht gewesen: „Unterleuten“ ist ein starkes Stück Literatur, gesellschaftskritisch und wortgewaltig. „Großer Gesellschaftsroman“ eben, in jeder Hinsicht. Barbara Hauschild & Christian Funke

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Die Geschichte spielt im Umland Brandenburgs, eine Stunde von Berlin entfernt, in dem kleinen Dörfchen "Unterleuten". Dort leben zwar nicht viele Menschen, doch deckt die Bewohnerschaft die ganze Bandbreite verschiedener Charaktere ab. Da gibt es zum Beispiel den alteingesessenen Ex-DDR Bürger, der immer noch verbissen an den alten Werten festhält und sich von seinen kapitalistischen Mitmenschen betrogen fühlt, die Großstadtflüchtigen, die der abgeschiedenen, ländlichen Idylle nur positives abgewinnen können, der etwas aggressive, erfolgreiche Geschäftsmann, dem egal was er tut Negatives unterstellt wird, oder die selbstbewusste, aufstrebende, junge Geschäftsfrau, die mit dem "typischen" Frauenbild bricht. Dieses Dorf mit seiner "illustren" Gesellschaft wird nun, völlig unerwartet, von der Planung eines Windparks bedroht und sofort kocht in dem beschaulichen Unterleuten die Stimmung hoch. Obwohl doch jeder nur das Beste für sich, seine Mitmenschen bzw. für seinen Wohnort will, läuft bald alles gehörig aus dem Ruder. Ganz unerwartet überzeugte mich Juli Zeh mit einem mitreißenden, flüssigen und verständlichen Schreibstil. Manchmal laut, manchmal aber auch ganz leise zeigt sie sowohl die jeweiligen Charaktereigenschaften ihrer Protagonisten als auch deren Handlungsmotivation auf. Die Autorin widmet sich in jedem Kapitel einer anderen Figur und erzählt die Geschehnisse aus deren Sicht. Dadurch fällt es dem Leser leicht sich in die betreffende Person hineinzuversetzen und muss ihm/ ihr am Ende des Kapitels, zumindest ein bisschen, zustimmen. Fazit: Eine faszinierende Geschichte, mit soziologischen Charakter, die mich begeistert hat.

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Einfach großartig!!

Buchhandlung Hugendubel, Petersstr.12, 04109 Leipzig

Von: Beate Leinweber aus Leipzig

10.06.2016

"Teilweise Spoiler"! Ich finde: Dieser neueste Roman von Julie Zeh ist einfach großartig und unbedingt lesenswert: Was als Roman, oder auch als eine Art Stück Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte beginnt, entwickelt sich nach und nach und immer mehr zu einem äußerst klugen, psychologischen Kammerspiel, über menschliche Abgründe. Der Roman zeigt auf (anfangs sehr subtil, später immer deutlicher und drängender), was Neid und Missgunst, jahrelange, unter der Oberfläche brodelnde, unterdrückte Wut und lang gehegte, unausgesprochene Konflikte, gepaart mit einer gut funktionierenden Gerüchteküche im Menschen an sich und in einer kleiner Dorfgemeinschaft, wo die Nachbarn sich ein Leben lang kennen, anrichten können- wenn man nur einen passenden „Aufhänger“ findet, der den schon lange Zeit vor sich hin schwelenden Vulkan schließlich zum emotionalen Ausbruch bringt. Und wie erschreckend einfach es ist, eine kleine Gemeinschaft von Leuten so gegeneinander aufzuhetzen und so sich gegenseitig auszuspielen, dass Würde, Freundschaft und Anstand auf der Strecke bleiben- man braucht dazu nur ein paar gezielte Seitenhiebe. „Unterleuten“ mag zwar an manchen Textstellen etwas überspitzt wirken, aber im Kern trifft Juli Zeh mit ihrer ganz eigenen Beobachtungsgabe völlig ins Schwarze, meiner Meinung nach; sie legt quasi ihren Finger in die noch immer aktuelle, brisante Wunde, die (stellvertretend dafür) das Dörfchen Unterleuten in verschiedene Lager spaltet: Auf der einen Seite stehen die Menschen, die nach der Wende nie mehr so richtig auf die Beine kamen, dann sind da noch die Menschen, die den „alten Zeiten“ nachtrauern, oder die Einwohner, die die „neue Zeit“ als Chance sehen und schließlich kommen noch die vermeintlich reichen Zugezogenen aus dem „Westen“- und mittendrin ein Windpark, der neu gebaut werden soll... Und der letztenendes das Fass zum Überlaufen bringt, bzw. die vor sich hin brodelnden Probleme der Dorfgemeinschaft zum Überkochen. (Denn hier zeigt sich ganz deutlich ein weiteres gesellschaftliches Phänomen: Viele Bürger sind für die Abschaffung der Atomkraftwerke und wollen gerne die Energiewende haben- aber „bitte nicht vor der eigenen Haustür“.) Beeindruckend finde ich, mit welcher Genauigkeit die Autorin unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält: Unwillkürlich musste ich beim Lesen an solche Redewendungen wie „Schuld sind immer die Anderen“, oder „Jeder ist jedermanns Feind“, oder auch „Jeder ist sich selbst der Nächste“ denken, denn solche Sätze werden in diesem großartigen Gesellschaftsroman zur bedrückenden Realität. Toll finde ich den Schreibstil der Autorin: Sie schreibt einfach über gesellschaftliche und persönliche Abgründe, ohne dem Leser ihre eigene, ganz persönliche Meinung aufzudrängen, nein - sie schreibt ganz einfach so, dass man sich beim Lesen in die Protagonisten hineinversetzen kann, ob man dies nun will oder nicht, und Juli Zeh regt mit ihrem Roman „Unterleuten“ zum Nachdenken an. Also: Wie schon oben gesagt: Unbed

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Ein Lieblingsbuch der Deutschen in diesem Frühjahr. Die intelligente Juli Zeh bringt einen neuen Roman raus, manche ihrer Bücher waren mir zu seicht oder zu konstruiert, das hier ist ein Hammer, sicher ihr bestes Werk bisher. Erzählt wird das Leben in einem ostdeutschen Dorf, in dem Windkrafträder aufgestellt werden sollen. Dass das beim Öko-Zugezogenen, beim Ex-Stasi, beim alt eingesessenen Bauern und dem Neu-Kapitalisten, außerdem beim ganz normalen Volk zu Wirrungen führt, kann man sich denken. Exemplarisch vielleicht für Vorgänge in vielen anderen Dörfern destilliert Juli Zeh jeden einzelnen Charakter auf seine dunklen und hellen Seiten. Die Zustände und Meinungen wechseln während des Buches, die Winkelzüge der Kommunalpolitiker und Dorfältesten sind raffiniert, die Klischees der Zugezogenen treffsicher beschrieben. Dazu noch eine süffige runde Sprache. Lesen! Ganz lustig übrigens: Ich habe das Buch als ebook gelesen, und die erwähnten Hyperlinks im Buch lassen sich tatsächlich anklicken und führen den Leser auf (konstruierte?) Websites zu Windkraftanlagen oder Pferdezüchtern. Witzig. (5/5)

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