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Rezensionen zu
Unterleuten

Juli Zeh

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Im vergangenen Jahr las ich die Essay-Sammlung „Nachts sind das Tiere“ von Juli Zeh und resümierte das unter dem Titel „Kann man mit Juli Zeh Spaß haben?“. Die Resonanz auf mein Vergnügen mit ihren Texten war auffallend heftig zwiegespalten. Es gibt wohl nur wenige Autorinnen, die derart polarisieren. Häufiger Vorwurf gegen sie war, sie würde salbadern, sei selbst eine ewig krittelnde Spaßbremse und fabriziere nur öde Belehrungsliteratur. Ihre Spaß vermissenden Kritiker wird Juli Zeh mit ihrem neuen Roman sicher nicht umstimmen können, auch wenn der meines Erachtens sehr unterhaltsam, amüsant und zudem auch noch spannend daherkommt. Es ist eine Moritatengeschichte über ein Soziotop, ein Kaff, ca. eine Autostunde von der Hipster-Metropole Berlin entfernt, bewohnt von gottverlassenen (es gibt zwar eine Kirche, aber offenbar keine Kirchenvertreter) Hinterwäldlern, die es nicht mal für nötig befinden, eine Kanalisation in ihrer Idylle der Ursprünglichkeit bauen zu lassen. Das Idyllische und Ursprüngliche zieht denn auch noch ein paar das Landleben verklärende Aussteiger an. Das Panoptikum an Dorfbewohnern, das Juli Zeh zusammenstellt und aus deren jeweiligen Blickwinkeln sukzessive die Geschichte kapitelweise und chronologisch erzählt wird, entspricht im etwa dem, was ein ARD-Castingteam für eine mögliche Vorabendserie „Vorpommern“ zusammenstellen würde. Im Mittelpunkt stehen zwei alte Männer, die seit Generationen die verfeindeten Machtzentren im Dorf bilden. Da ist zum einen Gombrowski, Spross eines Großgrundbesitzers, dessen Besitztum ihm zwar während der DDR-Zeiten enteignet wurde, der jedoch traditionell die Macht im Dorf als Leiter der daraus sich bildenden LPG innebehielt. Sein Widersacher ist Kron, ehemalige Brigadeführer in der LPG, dessen Neid und Wut gegenüber Gombrowski sich mit jeder politischen und aktuell wirtschaftlichen Wende steigert. Denn Gombrowski bleibt auch nach der Wiedervereinigung der bestimmende, Arbeit gebende Mann im Dorf, dem es mit seiner Gefälligkeiten-Philosophie geschickt gelingt, viele Menschen loyal an sich zu binden. Dieses antagonistische Konstrukt zwei Machtmänner in einem Dorf erinnert mich an die herrlich komischen, italienischen Filmhelden in meiner Kindheit: Don Camillo und Peppone. Doch während dort die Konflikte komödiantisch gelöst werden und der Autor Giovannino Guareschi unterschwellig geschickt seinen Landsleuten vermittelt, dass nicht Ideologien, sondern Humanität am Ende gewinnt, endet hier die Geschichte von „Unterleuten“ tragisch und hoffnungslos. Und da dies letztlich auch eine Moral von der Geschichte ist, könnten die Kritiker von Juli Zeh wieder fehlenden Humor anprangern. Auch in dem Dorf „Unterleuten“ leben – wie überall – nun mal überwiegend Spaßverderber, oder wie der im Roman öfter zitierte Erfolgsguru Manfred Gortz sagen würde: Killjoys. Die Killjoys machen den wenigen Movern in unserer Gesellschaft das Leben verdammt schwer. Unabhängig ob Frau oder Mann, alt oder jung, Wessi oder Ossi, Bauer oder Dozent, die meisten sind Jammerer und Hasenfüße, die das ihnen bekannte Unglück der vagen Chance auf das Glück vorziehen. Und schlimmer noch: Killjoys verderben anderen auch noch den Spaß, den sie selbst nicht haben. Der Prototyp hierfür ist Gerhard, ein ausgestiegener Soziologie-Dozent, der mit seiner 20 Jahre jüngeren Frau Jule und dem Baby Sophie als Vogelschützer sich in dieser vermeintlichen Idylle niedergelassen hat. Im Gegenteil dazu gibt es die rare Spezies der Mover, die sich nicht von Zweifeln und dialektischen Bedenken bremsen lässt, sondern deren Zugehörige fokussiert ihre Ziele vor Augen haben, vorangehen und überzeugt davon sind als Beweger sowohl ihre und damit auch die Welt im allgemeinen besser zu machen. Den „Mover“ in Unterleuten repräsentiert – neben dem alten Gombrowski – die junge, zugezogene Linda Franzen, die auch ganz beseelt von Manfred Goltz Erfolgsphilosophie ist. Die Mitzwanzigerin hat nur ein Ziel: mit ihrem schon lange gehegten Hengst ein Gestüt in Unterleuten zu begründen. Menschen werden von einem Mover wie ihr nur danach wertgeschätzt wie nützlich bzw. hinderlich sie für das Erreichen ihres Ziels sind. Diese abgeklärte, junge Generation taucht in Unterleuten auch in Person des Vertreters eines Windkraftanlagenbetreibers namens Pilz auf. Arne, der Bürgermeister von Unterleuten, staunt nur: „Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging ihm nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen.“ Juli Zeh erzählt sehr klug und vielschichtig. Man kann den Roman zunächst als gesellschaftliche Analogie lesen. Ob zeitlos oder eher zeitgeistig ist wohl individuell unterschiedlich. Ich las über einen ebenso archaischen wie auch anarchischen Mikrokosmos, der mir die Dynamik veranschaulicht, wie sich in Gesellschaften immer wieder Machtverhältnisse ausbilden, die sich über kurz oder lang in brutalen Konflikten entladen. Man kann den Roman auch als psychologische Studie aktueller Stereotypen in unsere Gesellschaft lesen. Jede Figur repräsentiert da wohl eine von den im Mainstream sich aktuell herausbildenden Soziotypen. Interessant hierbei ist, dass eigentlich keine Figur so angelegt wurde, dass man sich mit ihr identifizieren mag. Das sollte uns als Leser selbstkritisch werden lassen. Ein Spiel ließe sich unter mitlesenden Freunden veranstalten. Veranschaulichen wir uns – vielleicht nicht schmeichelhaft – unser Fremdbild: jeder soll die Figuren/Rollen im Roman mit seinen Freunden besetzen. Das kann man anonym austauschen und erfährt vielleicht so, welchen Stereotyp man aus Sicht seiner Freunde repräsentiert. Nicht zuletzt kann man „Unterleuten“ auch als Schauerballade und Abgesang auf die verklärte Landliebe lesen. Die naive Sehnsucht nach der (noch) heilen Welt wird hier herbe ernüchtert von einer, die es bekanntlich wissen muss: Juli Zeh lebt ja seit einige Jahren auf dem Land. Ich denke, sie wird dort aber dennoch auch ihren Spaß haben. Es ist ein intelligent konstruierter und in klarer, flüssiger Prosa formulierter Gesellschaftsroman mit vielen gleichberechtigten Akteuren, die alle eins vereint: sie entwickeln sich nicht. Alle treten am Ende aus der Geschichte genauso heraus wie sie eingetreten sind. Manche fliehen, manche sterben und andere bleiben. Doch keiner hat etwas dazu gelernt, keiner hat Einsichten erlangt, keiner verändert sich. Es ist also kein Entwicklungsroman. Das macht es leicht, den Roman zuzuklappen und sich zu denken: Nicht meine Welt. Doch eines sollte man sich danach beantworten können: Bin ich ein Killjoy oder ein Mover? Oder gleich den Ratgeber „Dein Erfolg“ von Manfred Gortz lesen.

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Unterleuten ist ein fiktiver Ort in Brandenburg und der Titel des neuen Romans von Juli Zeh. Die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin seziert mit klarem Blick eine dörfliche Gemeinschaft im Osten Deutschlands nach der Wende. Möglicherweise hat Zeh hier auch eigene Erfahrungen verarbeitet, lebt sie doch seit geraumer Zeit im Havelland. Die Bewohner von Unterleuten haben wechselhafte Zeiten hinter sich. Zumindest ein Teil von ihnen. Bezahlte Arbeit war und ist knapp, im Wesentlichen leben sie von den Erträgen ihres Grund und Bodens. Die Enteignungen im Zuge der Zwangskollektivierung in den sechziger Jahren haben sie weggesteckt, ebenso die Umverteilungen nach der Wende. Natürlich gibt es innerhalb des Dorfes Gewinner und Verlierer, und die daraus entstandenen Animositäten prägen den Umgang miteinander. Und dann sind da noch die Zugezogenen, Stadtflüchtlinge aus Berlin, die in Unterleuten ihren Traum vom Landleben verwirklichen möchten. Konflikte mit den Alteingesessenen sind hier schon fast vorprogrammiert. Es geht um Rivalitäten, um Intrigen, um Wendegewinner und Altkommunisten, um Abhängigkeiten finanzieller und emotionaler Natur, um Liebe und Hass. Und um einen projektierten Windpark und somit natürlich um Geld. Es sind sehr unterschiedliche Charaktere, die die Handlung tragen: Jule und Gerhard, sie eine Übermutter in Reinkultur, er ein verkrachter Soziologe, der nun als Vogelwart die seltene Spezies der Kampfläufer in der Unterleutner Heide schützt und sämtliche Bebauungswünsche der Einwohner durch Einsprüche blockiert. Linda, von ihrem Partner insgeheim „Rossfrau“ genannt, eine willensstarke Pferdeflüsterin aus Berlin, die sich und ihren Vierbeiner in der Villa Kunterbunt ein neues Heim schaffen möchte. Grombowski, Großgrundbesitzer und Geschäftsführer der Ökologica, schon zu DDR-Zeiten auf der Siegerstraße, der skrupellos in der Wahl seiner Mittel ist. Kron, ein kämpferischer Altkommunist, vom Leben gezeichnet und seiner Behinderung gehandicapt. Und Schaller, ein Typ raue Schale, weicher Kern, der begnadete Mechaniker und Nachbar von Jule und Gerhard, die ihn nur „das Tier“ nennen - meine Lieblingsfigur. Die Autorin lässt in ihrem umfangreichen Roman einen auktorialen Erzähler die Geschehnisse aus den wechselnden Perspektiven der Unterleutner schildern. Die einzelnen Kapitel sind jeweils mit dem Namen des Protagonisten überschrieben, sodass die Zuordnung sehr einfach ist. Der Leser entwickelt Nähe zu diesen Menschen, aber kaum Sympathien, da (fast) jeder in Unterleuten seine eigenen Ziele verfolgt. Sie geizt auch nicht mit spitzen Bemerkungen zur politischen Situation in diesem unserem Lande, aber immer in dem passenden Kontext. Natürlich kann sie das eine oder andere Klischee nicht vermeiden, wenn Stadt und Land aufeinandertreffen. Aber darüber kann und sollte man großzügig hinwegsehen, es fällt auch kaum ins Gewicht. Juli Zeh hat mit „Unterleuten“ einen Gesellschaftsroman geschrieben, wie man es in erster Linie von den amerikanischen Autoren kennt. Mir fällt hier spontan Jonathan Franzen ein. Ein großer Wurf von einer der besten Autorinnen, die wir momentan in Deutschland haben – Lesen!

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Unterleuten ist ein Ort, der seit Jahren nach den gleichen Regeln funktioniert. Es gibt die Zugezogenen, die sich auf dem Land mehr Lebensqualität erhoffen, den Besitzer der „Ökologica“, einem landwirtschaftlichen Betrieb, der als Nachfolger der LPG nahezu einziger Arbeitgeber im Ort ist. Dann die klassischen „Wendeverlierer“, die nicht akzeptieren wollen, dass die Welt sich verändert hat. Dazwischen stehen ihre Familien, Kinder und Bekannte, die alle ihren festen Platz in dem Netz aus Beziehungen haben. Als Unterleuten zum Fördergebiet für erneuerbare Energien werden und zahlreiche Windkrafträder bekommen soll, brechen plötzlich alte Kämpfe wieder auf, Rollen werden neu verteilt und das lange so stabile Beziehungsgeflecht droht zu zerbrechen. Juli Zeh ist mit „Unterleuten“ das Portrait einer fragilen Gesellschaftsstruktur gelungen, die sich plötzlich in einem Kampf wiederfindet. Systematisch legt sie die Schwachstellen einer Gesellschaft offen, die ohne Außenkontakt völlig in sich selbst verkeilt scheint. Personen, die von außerhalb in den Ort gezogen sind, stehen am Anfang noch distanziert am Rande und glauben, sich in diese Struktur nicht hereinziehen lassen zu wollen, doch unglaublich schnell finden sie sich selbst als Teil dieses Abhängigkeitssystems wieder, das am Ende in einen Kampf auf Leben und Tod endet. Frei nach dem Motto „Was ich nicht bekomme, soll auch keiner anderer haben!“ schraubt sich das Aggressionspotenzial sowohl im Subtilen als auch in offener Gewalt auf einer nach oben scheinbar offenen Skala immer weiter hoch, bis Entscheidungen getroffen werden, die zu Beginn noch keiner für möglich erachtet hätte. Die Autorin beschreibt beeindruckend kühl und distanziert vom Niedergang der menschlichen Gemeinschaft angesichts der Aussicht auf Geld und Einfluss. Deprimierend einfach zerlegt sie die gesellschaftlichen Strukturen, bis am Ende nur noch Individuen stehen, die hilflos um sich schlagend ihre Position verteidigen. „Unterleuten“ ist ein großer Roman über die großen Probleme der Gesellschaft und in seiner gleichzeitig mitreißenden und spannenden Schreibweise ganz sicher herausragend in der aktuellen Literaturlandschaft.

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Ich weiß gar nicht, ob ich in jungen Jahren offener oder noch verstockter war als ich es jetzt bin. Man sagt ja älteren Männern eine nachlassende Aufgeschlossenheit nach. Zu Recht, denn genügend Erfahrungen wurden schließlich gemacht, das Weltbild steht. Wann, wenn nicht jetzt, ist die richtige Zeit für eine klare Meinung? “Hab ich doch gesagt” und “Ist so”” sind zu Lebens-Leitsprüchen geworden. Und davon gibt es bei mir von Jahr zu Jahr immer mehr. Einer lautete bisher: “Juli Zeh geht gar nicht”. Ob Vorratsdatenspeicherung, NSA-Affäre oder sonstige politische Debatten – Juli Zeh saß in gefühlt jeder zweiten TV-Talkrunde mit im Stuhlkreis. Wenn ich ihr engagiertes, sendungsbewusstes Gesicht sah, habe ich regelmäßig umgeschaltet. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, ein Buch von ihr zu lesen. Doch dann habe ich auf einem Blog die erste hymnische Besprechung über ihren neuen Roman gelesen. Ein paar Tage später noch eine und dann noch eine. Und da kam ich dann schon ins Grübeln. Sollte ich vielleicht mal mein Urteil überdenken? Schließlich hatte ich Juli Zeh bisher noch gar nicht als Autorin, sondern nur als nervige TV-Debattiererin kennengelernt. Im Zweifel könnte ich ja meine Antipathie weiterführen und einen schönen Verriss schreiben. In einem Anflug von Altersmilde bestellte ich mir also das Buch, auch um mal zu schauen, was an Volker Weidermanns Zitat auf dem Backcover dran ist, der da sagt: “Im Grunde ist Juli Zeh genau jene Schriftstellerin, nach der sich alle sehnen.” Eines kann ich schon mal vorwegnehmen. Weidermann hat Recht. Juli Zeh ist eine grandiose Schriftstellerin. Ihr Roman hat alles, was ein großer Gesellschaftsroman haben muss: Ein glaubwürdiges Setting, vielschichtige und interessante Charaktere, einen spannenden Plot mit aktuellen Bezügen und einen lebendigen, flüssigen und abwechslungsreichen Erzählstil. Das alles lässt einen Seite für Seite wie im Rausch umblättern. Ja, Unterleuten ist ein echter Pageturner. Kommt dick daher wie ein Tausendseiter, erscheint einem beim Lesen wie ein dünner Zweihundertseiter, hat aber tatsächlich 635 Seiten. Man bleibt dran, ist am Haken und hat in ein paar Tagen diesen Roman ausgelesen. Und seien wir doch mal ehrlich, das ist doch genau das Leseerlebnis, wonach wir alle immer wieder suchen. Dieses Eintauchen, dieses Sich-Verlieren in einer Geschichte, lesen bis einem spät in der Nacht die Augen zufallen, nur um morgens beim ersten Kaffee schon wieder weiterzulesen. Lesen in der Mittagspause, lesen als Beifahrer im Auto, in der Bahn und auf dem Klo. Ja, Volker Weidermann hat vollkommen recht – wenn ein Autor oder eine Autorin es schafft, diesen Leseflow zu erzeugen, dann ist das der perfekte Schriftsteller. Was mich persönlich an diesem Roman so fasziniert hat, ist nicht der Plot, nicht das Setting in der Brandenburgischen Provinz, nein, das waren die Charaktere. Juli Zeh hat sich die Zeit genommen, jeden einzelnen der zahlreichen Romanfiguren detailliert und liebevoll einzuführen. Da ist der alte Kron, einer dieser Hundertprozentigen aus der alten DDR, einer, der das alte Regime, die alte Ordnung noch immer in sich trägt. Oder sein Gegenspieler Gombrowski, ein Bär von einem Mann, einer der alles aufgrund seiner schieren Leibesfülle dominiert, einer der sich einsetzt, der alles gibt, Gutes tut, aber was auch immer er auch tut, immer Feindbild bleibt. Oder Jule und Gerhard, ein stadtflüchtendes Akademiker-Paar, er alt, sie jung, mit Kind und Tragetuch. Dann wären da noch Frederic und Linda, er Computernerd und Spieleentwickler, sie Pferdeflüsterin und dominante Powerfrau, die rücksichtslos ihre Interessen durchsetzt. Alle diese Figuren, ihre Denkmuster, Zwänge und Handlungsroutinen lernen wir im Verlauf dieses Romans detailliert kennen. Juli Zeh baut auf, beschreibt, berichtet und erzählt ihre Geschichte auf eine angenehm zurückhaltende Weise. Ich hätte jetzt klare politische Standpunkte erwartet, das mir aus den TV-Talkshows bekannte Sendungsbewusstsein, aber nichts davon. Ich fühle mich als Leser nicht gedrängt, nicht in eine bestimmte Richtung manövriert. Zeh legt selbst die Figuren, die nicht ihrem gesellschaftspolitischen Weltbild entsprechen, mit großer Empathie und Sympathie an. Ich muss sagen, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Ich hatte Juli Zeh als Überzeugungstäterin eingestuft, eine, die jedem immer und überall ihre Weltsicht aufs Auge drückt. Eine politische Autorin, die wie Sartre oder Brecht in erster Linie deswegen schreibt, um Missstände anzuprangern, Dinge zu verändern, wachzurütteln. Vielleicht will sie das insgeheim auch, aber wenn, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Trotzdem ist Unterleuten ein politischer Roman, hier kommt alles das zusammen, was in unserer Gesellschaft an Kräften agiert. Das Kapital, das Gestern, das Morgen, Ego-Shooter, Verkopfte, Bodenständige, Bestimmer und Befehlsempfänger und der ganze Rest von Menschen, die weder das Eine noch das Andere sind, sondern einfach nur versuchen klar zu kommen. Und dann ist da noch die nette Posse rund um den Lebensberater und Buchautor Manfred Gortz, dessen Erfolgsformeln rund um Machtmenschen (Movern) und ihren Gegenspielern, den sogenannten Killjoys, im Buch immer wieder zitiert werden. Hier durchbricht Juli Zeh die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Romanwelt tritt ins echte Leben ein. Das zitierte Buch “Dein Erfolg” gibt es wirklich, man kann es kaufen, den Autor Manfred Gortz gibt es aber anscheinend nicht, er scheint eine ausgelagerte Romanfigur zu sein. Wenn es denn so ist, dann wäre das eine interessante literarische Spielart mit Aha-Effekt. So lass ich mir Gesellschaftskritik gerne gefallen. Gekonnt und intelligent in Szene gesetzt. Natürlich werden auch hier Klischees bedient – der Computernerd, der Investor aus Rüsselsheim, der Möchtegernschriftssteller – aber Juli Zeh verschont uns mit ausgelutschten Phrasen und verknüpft jede Position in der Unterleutener Windkraft-Debatte mit einem persönlichen Schicksal. So durchlebt man mit jeder Figur alle Argumente und versteht auf einmal jeden einzelnen Standpunkt. Das ist grandios und prinzipiell genau das, was uns bei allen öffentlichen Debatten immer wieder fehlt: Verständnis für die Sichtweise des jeweils anders Denkenden. Eigentlich ganz einfach und trotzdem unglaublich schwer.

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Lesenswert!

Von: Helmut Horten aus Lenaustr. 41, 47057 Duisburg

17.04.2016

Gegen "Unterleuten" waren die Intrigenspielchen am Hofe Ludwigs des XIV. nur Kasperletheater. Ein herrliches Buch!

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Juli Zeh hat mit ihrem neuen Buch "Unterleuten" ein grandioses Stück Gesellschaftsgeschichte der Gegenwart geschrieben. Unterleuten ist ein kleines Dorf in Brandenburg, nur knapp eine Stunde von Berlin entfernt. Dort können Städter die Ruhe und die Natur genießen. Und genau das tut Prof. Dr. Gerhard Fließ, der seiner Unilaufbahn den Rücken kehrt, um in der Vogelschutzwarte dort zu arbeiten, um die vom Aussterben bedrohten Kampfläufer (die auch auf dem Cover abgebildet sind) zu schützen. Mit dabei sind seine Frau Jule und das Baby. Auch lesen wir von Linda und ihrem Freund Frederik, die gemeinsam Pferde züchten möchten. Also fünf (mit Baby ;-)) zugezogene Städter in der tiefsten Provinz. Wie immer tragen diese natürlich ihre weltmännisch und großstädtisches Gehabe zur Schau, was den Unterleutern erst einmal nicht gefällt. Herrlich idyllisch ;-). Auf einer Bürgerversammlung wird bekannt, dass eine Investmentfirma am Ort und drumherum Windkraftanlagen bauen wollen. Unklar ist, auf wessen Grundbesitz das ganze stattfinden soll. Nun ist es vorbei mit der Idylle im 250-Seelen-Dorf Unterleuten. Die Bewohner rüsten sich zum Kampf und so kommen längst vergangene und verdrängte Emotionen, Streitigkeiten, alte Verletzungen etc. hervor ... Auch die zugezogenen Städter verstricken sich immer mehr in ein intrigantes Spiel, um das Bauprojekt für sich zu nutzen ... Das scheint das Ende der Dorfgemeinschaft in Unterleuten ... Ich mag die Schreibe von Juli Zeh sehr gerne, habe alle ihre Bücher gelesen und auch mit "Unterleuten" ist ihr grandiose Literatur gelungen. Klar schreibt sie über eine Dorfgemeinschaft, eine Gesellschaft, die aus Gewinnern und Verlieren, Alten und Jungen, Ost- und Westdeutschen, Städtern und Ländlern ... Sie zeigt, was Gier mit den Menschen macht und Gründe, warum ein Mensch seine selbstgesteckten moralischen Grenzen überschreitet. Fazit: Ein aktueller, bilanzziehender Gesellschaftsroman, der brandaktuell ist. Formvollendet geschrieben, kein Satz ist zuviel oder zu lang, perfekt seziert sie unsere Gesellschaft mit all ihren unterschiedlichen und gegensätzlichen Facetten. Ein großer Roman über die Schwächen der Menschen - unter Leuten eben ;-)! Absolut und uneingeschränkt lesenswert! Das schreibt der Luchterhand Verlag: Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist Über die Autorin: Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel” (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015). Buchinformationen: Gebundene Ausgabe: 640 Seiten Verlag: Luchterhand Literaturverlag, erschienen am 8. März 2016 Preis: 24,99 Euro ISBN-13: 978-3630874876

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In Unterleuten, Brandenburg, etwa eine Stunde von Berlin entfernt, kann man das stressige Stadtleben hinter sich lassen, die Ruhe der Natur und des Landlebens genießen. So denken Gerhard Fließ, der seiner Professur an der Universität den Rücken gekehrt hat und statt dessen in der Vogelschutzwarte der Region arbeitet, um die seltenen Kampfläufer zu schützen, seine Frau Jule nebst frischem Baby sowie Linda Franzen, die das Dorf als Basis ihrer zukünftigen Pferdezucht auswählt und deren Partner Frederik, der eigentlich die Großstadt Berlin liebt. Die vier Zugezogenen tragen ihre großstädtische Arroganz zur Schau und stiefeln mit Selbstgerechtigkeit durch das Dorf, von dessen Vergangenheit und der der Bewohner sie nichts ahnen. So trügt die Idylle des gemütlichen Landlebens. Bis eines Tage eine Investmentfirma auf einer Bürgerversammlung bekannt gibt, dass Ort und direkte Umgebung für den Bau von Windkraftanlagen durch Land und Regierung auserkoren wurden. Lediglich die Frage, auf wessen Grundbesitz das Ganze gebaut wird ist noch offen, und somit auch, wer zukünftig ein finanziell gesichertes Leben dank der Windkraft genießen darf. Vorbei ist es mit der Ruhe in dem 250-Einwohner-Ort. Die Bewohner gruppieren sich um die Alten Kron und Gombrowski, beides Anführer in der Dorfgemeinschaft und seit Jahrzehnten im Streit liegend. Symbole für die Gewinner und Verlierer der Wende. Sie tragen alte Verletzungen zur Schau, holen nie verjährende Streitigkeiten hervor, deren Narben gerade anfingen zu heilen und beginnen, sich gegenseitig zu vernichten. Gleichzeitig verstricken sich die neu Hinzugezogenen in eigene und fremde Intrigen, um das Bauprojekt zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen. Die Dorfgemeinschaft zerbricht gänzlich, als die Enkelin Krons verschwindet und Unschuldige fast zu Tode geprügelt werden. Juli Zeh ist mit „Unterleuten“ ein grandioses Stück Literatur gelungen. Ein Gesellschaftsroman, der Bilanz zieht. Mit klarem Blick auf die Konflikte in der deutsch-deutschen Gesellschaft schreibt die Autorin über die schmalen Grade auf den unterschiedlichen Lebensebenen. Sie beleuchtet die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, Stadt- und Landleben, jüngerer und älterer Generation, finanziell gesicherte und ungesicherte Existenzen. Sie schreibt über die Gewinner und die Verlierer der deutschen Wiedervereinigung, der Umstrukturierung des politischen Systems in Ostdeutschland und die langfristigen Konsequenzen für die Einwohner der neuen Bundesländer. Sie zeigt auf, was den Menschen zu Habgier und Egozentrik verleiten und dabei eigene, auch moralische, Grenzen überschreiten lässt. Juli Zeh spricht in einer glasklaren Sprache. Keine Endlossätze, die den Leser in der Vielschichtigkeit der Geschichte verstricken. Dafür aussagekräftige Dialoge, Einblicke in die Vergangenheit der Protagonisten in kurzen inneren Monologen oder durch den allwissenden Erzähler. Die Autorin versteht es, Spannung aufzubauen, ohne den Roman in einen Thriller zu verwandeln. Sie vermittelt alltägliche Geschehen, die jeden Tag, jeden Einzelnen unserer Gesellschaft widerfahren können und lässt dabei die Hauptfiguren politische und soziale Stellung beziehen und einen Platz in der Gesellschaft finden. Andere wiederum charakterisiert sie meinungslos und situationsentsprechend angepasst. „Unterleuten“ ist ein Gesellschaftsroman, der der heutigen Zeit entspringt und entspricht. Juli Zeh wählte für ihren Roman essentielle, existentielle und unserer Zeit entsprechende Themen aus. Leicht hätte dieser Roman trocken und langweilig geraten können. Juli Zeh gelingt es aber, einen kraftvollen, energiereichen, wütenden und auch suchenden Roman zu schreiben, in dem sich der Leser schon nach wenigen Seiten verliert und in allen Gesellschafts- und Moralschichten wiederfinden kann. Ich ziehe den Hut vor Juli Zeh!

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Unterleuten Juli Zeh „Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …“ Nachdem der Roman überall so groß angepriesen worden ist, waren meine Erwartungen natürlich entsprechend hoch. Leider wurde ich sehr enttäuscht. Ich habe bereits Spieltrieb von der Autorin gelesen, was mir recht gut gefallen hat, aber ‚Unterleuten’ hat mich leider nicht umgehauen. Der Schreibstil ist gut, aber zeitweise etwas zu geschwollen. Die Handlung zieht sich durch ellenlange Beschreibungen von banalen Dorfstreitigkeiten und spröden Bewohnern. Mir hat so ein bisschen eine spannende Thematik gefehlt und ich konnte mir auf Grund von Geschehnislosigkeit auch die schien unzähligen Namen nicht merken. Das Buch besteht allein aus der Beobachtung, Analyse und intensiven Beschreibung der Bewohner, die mich aber leider sehr gelangweilt haben. Die besagten Bewohner streiten sich um eine neue Windkraftanlage und alle im Dorf befinden sich deshalb im Zwist. Das wars dann auch schon.. Ich habe einfach mehr erwartet! 3 von 5

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